© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/97  28. März 1997

 
 
Pankraz, Gaetano Mosca und das Schibboleth der classe politique
von Prof. Günter Zehm

Bonns politische Klasse, schrieb Karl Feldmeyer in der FAZ, sei von Mißtrauen gegenüber der eigenen Nation erfüllt, vom "Bedürfnis, sie immer wieder zurechtzuweisen und sich dadurch von ihr abzugrenzen". Pankraz würde dem zustimmen, ihn stört aber etwas die Kennzeichnung der Bonner Politiker als "Klasse". Er für sein Teil setzt den Begriff, wenn er ihn denn gebraucht, stets in Gänsefüßchen: Bonns "politische Klasse". Erstaunt beobachtet er, wie unreflektiert und behaglich man andernorts inzwischen mit der Redewendung umgeht.

Dabei ist das Wort "Klasse" im politischen Kontext eindeutig vorbelastet. Die alten Römer benutzten es bei der Steuereintreibung; ein "classicus" war Mitglied der obersten Steuerklasse. Bei Marx standen sich "herrschende, ausbeutende Klasse" und "beherrschte, ausgebeutete Klasse" unversöhnlich im "Klassenkampf" gegenüber. Bei Gaetano Mosca wurde zum ersten Mal jener fatale Prozeß beschrieben, in dem sich ein Konglomerat von gewählten Volksvertretern im Zuge von Bürokratisierung und Selbstprivilegierung allmählich zu einer vom übrigen Volk abgeschotteten, gegen Abwahl gefeiten "Klasse" mit speziellem Sozialstatus und spezieller Ideologie entwickelt. Seitdem wollte eigentlich niemand mehr, am wenigsten Politiker, als "Klassenangehöriger" bezeichnet werden.

Erst in allerjüngster Zeit ist die Hemmschwelle planiert. "Wir von der politischen Klasse" – so kürzlich ein Bundestagsabgeordneter im Presseklub, ohne jeden Anflug von Ironie oder schlechtem Gewissen. Man läßt es sich gern gefallen, als Mitglied der "politischen Klasse" angesprochen zu werden, besonders wenn der Ansprecher die französische Fassung benutzt, "classe politique". Dann sieht man richtig, wie der Angesprochene sich stolz bläht. "Classe politique": das klingt nach "École normale" oder "École polytechnique", nach Eliteanspruch und besonderer Begabung. Und es klingt nach Vorbestimmtheit, so als stünde einem die Zugehörigkeit zur "classe politique" von Natur aus zu.

Die wissenschaftliche (oder pseudo-wissenschaftliche) Herkunft des Wortes entfaltet ihre zeittypische Wirkung. Wer als Kritiker statt von "Klasse" von "Clique", "Claque" oder gar von "Gang" spräche, der würde mit Empörung übergossen werden, ob seiner Unwissenschaftlichkeit. Aber "Klasse"? Zur "Klasse" wird man nicht, sondern man ist "Klasse", vom Schicksal erwählt und zur Herrschaft bestimmt. Zu den damit verbundenen Privilegien hat man sich weiß Gott nicht gedrängt, sondern man nimmt sie (eher seufzend) in Kauf. Sie sind auf jeden Fall "gutes Recht", das einem kein noch so hämischer Kritiker, und hieße er Professor von Arnim oder Professor Scheuch, schmälern kann.

Pankraz würde trotzdem lieber von "Claque" sprechen, wenn er auch zugeben muß, daß die Bonner Zustände mittlerweile fast bis aufs I-Tüpfelchen den von Mosca benannten Kennzeichen einer "herrschenden Klasse" entgegenkommen. Die "politische Klasse" von Bonn verhält sich tatsächlich "selbstreferentiell".

Sie hat ein hochentwickeltes Standesbewußtsein und beachtet mit nachtwandlerischer Sicherheit Sprachregelungen. Abgeordnete, die sich im Plenum soeben noch mit donnerndem Pathos gegenseitig heruntergemacht haben, gehen anschließend gemeinsam in der Kantine Bier trinken oder Skat spielen und sind ein Herz und eine Seele. Das gemeinsame Klassenbewußtsein funktioniert exzellent, wie im Falle Süssmuth soeben wieder bewiesen.

Auch die von Mosca benannten Kooperationsmechanismen sind perfekt entwickelt. Die vom "Verfassungsbogen" überspannten Parteien dienen als Nachwuchsreservoir und werden in Hinblick auf diese Aufgabe streng kontrolliert und angeleitet. Nur wer den klassenspezifischen Politsprech inklusive sämtlicher Tabus und ritueller Verbeugungen beziehungsweise Abscheubezeugungen beherrscht, wird zum Klub zugelassen.

Der Klub wird gegen die Verhältnisse "draußen im Lande" abgesichert durch einen Ring willfähriger Medien, die den Politsprech ebenfalls aus dem FF beherrschen müssen und deren Funktionäre mit den Klubmitgliedern im engeren Sinne eine innige Osmose eingehen. Sie (die synthetisierten Medienvertreter) sind die "Soldaten im Ameisenstaat" (Mosca). Ihr Verhältnis zu den "Arbeitern" und zu den "Drohnen" ist nur scheinbar zeitweilig spannungsreich; in Wirklichkeit herrscht Arbeitsteilung, und die "Spannugen" dienen zur Abfuhr überflüssiger Energien und zur Augentäuschung nach außen. Woraus besteht der Kern des Politsprechs, das Schiboleth, an dem man sich erkennt? Nun, es ist eben jenes – an entscheidender Stelle zu artikulierende – "Mißtrauen gegenüber der eigenen Nation", von dem Karl Feldmeyer in seinem FAZ-Artikel schreibt. Ein Angehöriger der Bonner "classe politique" hat, um den Preis seiner Zugehörigkeit oder seines Ausgeschlossenwerdens, in gewissen Lagen grundsätzliche Distanz zu dem von ihm angeblich vertretenen Volk zu bezeugen, schneidende Distanz.

Dieses Volk, so muß er sagen, gehöre "in jeder Richtung eingebunden", "seine unheilvolle Vergangenheit" beweise das. Er, als Angehöriger der "classe politique", gehöre glücklicherweise nicht richtig dazu, seine, des Angehörigen, seelische Wurzeln lägen eher in Brüssel, Barcelona und Bordeaux denn in Weimar, Wismar und Wernigerode. Und so muß er auch sprechen, wenn er (was oft der Fall ist) von Brüssel nur einige Eßlokale, von Bordeaux nur den Wein und von Barcelona nur die Bordelle kennt. Es ist also nicht leicht, Mitglied der Bonner "classe politique" zu sein. Und ewigen Bestand, sagt Mosca voraus, hat eine einmal formierte "politische Klasse" auch nicht. Wer gibt einem da Sicherheit, wer garantiert die Lebensplanung?


 
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