© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/97  04. April 1997

 
 
Ungesicherte Rentenversicherung, krankes Gesundheitssystem
von Gerard Radnitzky

Dank Erhards Reform erhob sich Westdeutschland wie ein Phönix aus der Asche. Erhard liberalisierte die Wirtschaft, ließ aber die wohlfahrtsstaatliche Tradition intakt. Für ihn war der Ausdruck "soziale Marktwirtschaft" ein Pleonasmus, weil die Marktwirtschaft per se sozial ist – schon allein deshalb, weil sie für Wohlstand und Verantwortung unentbehrlich ist. Er mußte mit ansehen, wie der Begriff immer mehr sozialistisch ausgelegt wurde. Seine Warnungen blieben ungehört.

Heute beträgt die Abgabenquote – also der Anteil vom Durchschnittseinkommen eines Arbeitnehmers, der ihm in Form von Steuern und Sozialversicherungsabgaben abgezogen wird – mehr als 50 Prozent. Das heißt, erst ab Mitte Juli darf der Durchschnittsarbeitnehmer über das Geld, das er erarbeitet, selbst verfügen. Die Abgabenquote ist ein Indikator für das Ausmaß, in dem der Staat seine Bürger als unfähig ansieht, ihre eigenen Geschäfte verantwortungsvoll zu führen. Sie stellt eine Art Entmündigungskoeffizient dar. Ein Land, in dem sie mehr als 50 Prozent beträgt, ist mehr als zur Hälfte sozialistisch.

Geht man der Frage nach "Wo ist er denn, der Kapitalismus?", ist man erstaunt, daß es uns (noch) so gut geht. Untersucht man die verschiedenen Subsysteme, dann stellt man nämlich fest, daß zwischen dem manifesten Sozialismus der Ex-"DDR" und dem schleichenden Sozialismus des wuchernden Wohlfahrtsstaates nur noch ein gradueller und sich stetig verringernder Unterschied besteht (vgl. Roland Baader 1991, Kreide für den Wolf). Die Zwangsapparatur des staatlichen Versicherungswesens kann das Gesagte illustrieren.

Eine Versicherung dient der Sicherung gegen unwägbare und untragbare Risiken, auf Vertragsbasis und nach dem Solidarprinzip. Einkommenssicherung im Alter ist kein Versicherungsfall. Einkommen im Alter sichert man durch Kapitalansparung. Die "Rentenversicherung" in Deutschland hat nichts mit Versicherung zu tun. Es handelt sich um eine Umverteilungssteuer. Bei einer privaten Versicherung oder beim Sparen mit nur 4 Prozent Zinsen per anno würde ein Einzahler nach 45 Jahren das fünffache dessen an Rente beziehen, was er von der staatlichen Zwangsrente erhält. Vier Fünftel gehen durch das

Umverteilungssystem verloren. Die Staatsversicherung fungiert als eine zweite progressive Steuer; je mehr man einzahlt, desto weniger lohnt sich das. Praktiziert wird das "Umlageverfahren". Die "Rentenversicherung" gleicht einem Gefäß mit einem Zufluß- und einem Ausflußrohr. Was durch das eine hereinfließt, fließt durch das andere hinaus. Ähnlich wie bei einem betrügerischen Fond, der mit hohen Renditen lockt und diese auch bezahlt, solange er neue Einzahler bekommt; sobald der Zufluß stagniert, geht er bankrott und den (privaten) Betrügern wird der Prozeß gemacht. Die Financial Times nannte das derart geordnete Umlagesystem "Rentenbetrug" (pension fraud). Beschönigt wird es mit einem zweiten Lügenwort: "Generationenvertrag". Der Begriff Vertrag wird mißbraucht, denn mit Kindern oder noch Ungeborenen kann kein Vertrag geschlossen werden.

Ein seriöses Unternehmen mit ordentlicher Bilanz müßte Rückstellungen und Rücklagen bilden. Die Bedeutung der nicht durch Rücklagen gedeckten Pensionsverpflichtungen ist für Deutschland besonders groß. Während sie in den USA 158 Prozent des Bruttoinlandsprodukets ausmachen und in Japan 217 Prozent, betragen sie in Deutschland 355 Prozent. Kapitalisierte man alle erworbenen Ansprüche (einschließlich Beamtenruhegehälter), ergäbe sich eine Summe von neun- bis zehntausend Milliarden Mark, mehr als das gesamte Geld-, Gebrauchs- und Grundvermögen aller Deutschen (vgl. Wolfram Engels 1993). Eine im April 1996 von Lehmann Brothers International, London, veröffentlichte Studie über die langfristige Tragbarkeit und Finanzierbarkeit staatlicher Pensionssysteme lieferte eine Rangliste der relativen Tragbarkeit: von zwölf OECD-Ländern steht die USA an der Spitze, gefolgt von Großbritannien; das Schlußlicht bilden Italien und Deutschland. Der Kollaps des Systems ist vorprogrammiert. Gravierend ist, daß das System perverse Anreize setzt. Es verleitet oder zwingt dazu, die Eigensparleistung zu verringern. Eine geringere Sparquote verteuert Kapital, was Unternehmen veranlaßt, weniger zu investieren, was wiederum Arbeitsplätze gefährdet. Ein Herumdoktern an dem grundfalschen System kann das Problem nicht lösen.

Ein Vorbild für eine Lösung bietet Chile. Unter dem Diktator Pinochet wurden 1981 private Rentenfonds nach dem Kapitaldeckungsverfahren eingeführt, die mit dem weiterbestehenden staatlichen System konkurrierten. Bereits 1989 waren 90 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in das private System umgestiegen. Bereits die Hälfte der von den rund zwanzig Privatfonds erwirtschafteten Durchschnittsrendite würde ausreichen, um einen Rentensparer, der zehn Prozent seines Lohnes während 40 Jahren eingezahlt hat, eine Rente in voller Höhe seines letzten Lohnes zu garantieren. Die Sparquote liegt mit 26 Prozent hoch über der anderer Länder. Im sozialdemokratischen Modell Schweden liegt sie bei nur 8 Prozent.

Aus der Geschichte weiß man, daß im 19. Jahrhundert in England die breite Masse der Bevölkerung sehr wohl gewillt und fähig war, privat und freiwillig für ihr Alter zu sorgen. Das gleiche gilt für Krankenversicherung. Für die kleine Minderheit, die nicht für sich sorgen kann, ist eine staatliche Existenzsicherung – neben der privaten – zweckmäßig. Sie impliziert Umverteilung, aber nicht in egalitarischer Absicht oder mit solcher Wirkung. Es ist absurd, wegen einer solchen Minderheit alle in ein staatliches Zwangssystem zu pressen, das die Volkswirtschaft schädigt. Dazu ist es gekommen, weil Politiker mit Wahlversprechungen, die "andere" bezahlen sollen, Stimmen kaufen und weil das süße Gift des Wohlfahrtsstaates viele Wähler süchtig macht – umverteilungssüchtig.

Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist ein sozialistisches System, das ebenfalls Verantwortung kollektiviert, und das heißt: eliminiert. Der Leistungsempfänger wird über die Kosten im Dunkeln gelassen und verführt, das System möglichst auszunutzen (moral hazard). Die Sozialpolitik beeinflußt die Volksgesundheit. Deutschland ist in Europa das einzige Land, das im Krankheitsfall nach wie vor den vollen Lohn auszahlt. Die Abwesenheit vom Arbeitsplatz wegen Krankmeldung (7,9%) ist fast dreimal so hoch wie in den USA (3 %) und 79mal höher als in Japan (0,10 %). Eine Korrelation finden wir auch in der umgekehrten Richtung: Als Schweden 1993 einen Karenztag einführte, fiel die Zahl der Krankmeldungen um über 20 Prozent. Offensichtlich hatte sich die Volksgesundheit schlagartig gebessert. Staatsbedienstete sind besonders gefährdet. Die Krankmeldungsrate pro Jahr ist fast dreimal so hoch wie bei Bankangestellten. Auch der Wochentag ist ein Parameter. Der Krankenstand beträgt am Mittwoch etwa 6 Prozent, am Freitag aber 36 Prozent. Bazillen scheinen in Deutschland selektiv geworden zu sein. Ein Phänomen, zu dem es noch keine epidemiologischen Erklärungen gibt.

Die GKV wird erwartungsgemäß unbezahlbar. Durch Adhoc-Maßnahmen kann sie nicht saniert werden. Seehofers Appelle sind pathetisch; die abgelegten Versatzstücke der Planwirtschaft, wie Preisfixierung und Rationierung, Honorar-Deckelung und Budget-Festschreibungen, sind keine brauchbaren Problemlösungsvorschläge. Wenn in einem Brief des Bundesministeriums für Gesundheit an die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung bezüglich der "Deckelung" (Budget-Obergrenze) rundschriftliche Kommentare dazu an deren Mitglieder verboten werden, zeigen sich totalitäre Züge. Von der planwirtschaftlichen Fehlkonstruktion versucht das BMG mit Argumenten aus der kollektivistischen Vulgärökonomie abzulenken.

"Fall-Pauschalen" für Krankenhäuser sind ein Musterbeispiel der Anmaßung von Wissen, das niemand haben kann. Sind sie zu niedrig, riskiert man unzureichende oder unterlassene Behandlung, sind sie zu hoch, verführen sie zu unnötigen Mehrleistungen. Besonders abstoßend und kontraproduktiv sind die Verunglimpfungs-Kampagnen der Medien gegen Ärzte und Zahnärzte. Sie appellieren an den Neid. Dabei werden die echten Leistungsträger und Unternehmer immer weniger und diejenigen, die auf Kosten anderer leben, immer mehr, so daß man wohl bald sagen darf: Immer mehr werden immer wenigeren für immer mehr zu danken haben.

Allein Reprivatisierung der Verantwortung kann eine Lösung bieten: Ein privater, wettbewerblicher Versicherungsmarkt für medizinische, einschließlich zahnmedizinische Versorgung, in dem die Kunden über die Preise der Leistungen informiert sind und zwischen unterschiedlichen Tarifen (mit Selbstbehalt) und konkurrierenden Versicherungsunternehmen frei wählen können, in dem eine direkte Verbindung zwischen Nutznießern und Zahlern besteht. Eine echte Lösung kann nur heißen: Desozialisierung der immer unhaltbarer werdenden gesetzlichen Krankenversicherung.

Prof. Dr. Gerard Radnitzky, geb. 1921 in Südmähren, ist Wissenschaftstheoretiker und lehrte an den Universitäten Stockholm, Göteborg, Stony Brook (New York), Bochum und Trier.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen