© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/97  11. April 1997

 
 
"Tacheles"-Verhandlungen: Alternative planen bis zum Rentenalter vor
Autonom für dreißig Jahre
von Doris Neujahr

Anfang der neunziger Jahre redete man davon, daß die alternative Kulturszene in Berlin, von Kreuzberg im Westteil der Stadt nach Bezirk Mitte im Ostteil weitergewandert sei. Die Oranienburger Straße mit ihren Kellerkneipen, Galerien und Szenetreffs in den maroden Häusern, allesamt kurz nach der Wende im Gefühl von Umbruch und staatlicher Ohnmacht in Beschlag genommen, wurden rasch zum Dorado von Künstlern, Halbkünstlern, Szenegängern, Nutten und erlebnishungrigen Normalverbrauchern aus Ost und West, die hier gefahrlos den Duft von Morbidität und vorläufiger Rechtsfreiheit schnuppern konnten. Im Mittelpunkt stand und steht noch immer das Kunsthaus "Tacheles", ein ruinöser Rest der historischen Friedrichstadtpassagen, der im Februar 1990 von jungen Leuten besetzt wurde und ein Café, eine Diskothek, Ateliers, Ausstellungsräume und einen Theatersaal enthält. Das alles hatte den Charme des Aufbruchs, von Kreativität und Chaos und war insofern ein Kind und bald darauf schon Symbol der "Wendezeit" und Markenzeichen für die Stadt, mit dem die Berlin-Werbung im Ausland renommieren geht.

Daß das "Tacheles" in den letzten Wochen wieder stärker ins öffentliche Gespräch geraten ist, liegt nicht an irgendwelchen spektakulären Projekten, sondern am Dauerstreit mit der Berliner Oberfinanzdirektion, die das Haus für den Bund als Eigentümer verwaltet und die "Tacheles"-Betreiber zum 4. April aufgefordert hatte, das Haus zu räumen. Das wurde selbstredend und in gut alternativer Tradition abgelehnt. Hintergrund sind die gescheiterten Verhandlungen mit dem privaten Investor, der "Fundus"-Gruppe. Die hatte vorgeschlagen, einen zehnjährigen Mietvertrag inklusive einer Optionsklausel auf weitere zehn Jahre auszustellen. Der symbolische Mietpreis sollte eine Mark pro Quadratmeter betragen. Die "Tacheles"-Leute verlangten eine Laufzeit von 30 Jahren und das weitere Nutzungsrecht für das umliegende, großflächige Areal in bester Innenstadtlage. So sollte langfristig die eigene Autonomie gesichert werden. Die ist freilich nur noch eine fromme und öffentlichkeitswirksame Formel, wenn man bedenkt, daß das Haus längst am Subventionstropf hängt. Seit 1991 sind rund 5 Millionen Mark geflossen, hinzu kamen projektgebundene Mittel in Höhe von 1,4 Millionen Mark. Außerdem werden 17 ABM-Stellen unterhalten. Alles in allem beträgt der Jahresetat drei Millionen Mark.

Andererseits ist es kaum denkbar, daß das Haus polizeilich geräumt wird. Der Schaden für den Berliner Ruf wäre einfach zu groß. So wird man wohl irgendwann zu einem Arrangement finden, das die Interessen von Bund und Investor berücksichtigt, die "Tacheles"-Leute aber ihr Gesicht behalten läßt, so daß die Gäste ihnen weiterhin abkaufen können, sie seien die alternativen Kulturmacher in der Hauptstadt: Betrug und Selbstbetrug auf Gegenseitigkeit. Die alternative Kunst wird sich anderswo ein Domizil suchen und über das Establishment und die angepaßten "Tacheles"-Spießer lästern. So ist der Lauf der Welt.


 
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