© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/97  18. April 1997

 
 
Seebad Rügen: Nutzungskonzept für Prora muß Gestalt annehmen
Imponierender Nachlaß
von Kai Guleikoff

Die Insel Rügen ist mit einer Fläche von 926 Quadratkilometern nicht nur die größte deutsche Ostseeinsel, sondern auch das beliebteste Ausflugs- und Urlaubsziel an der mitteldeutschen Ostseeküste. Wer es mit dem Kraftfahrzeug bis zur alten Hansestadt Stralsund geschafft hat, benutzt den Rügendamm und fährt auf der einzigen Bundesstraße über Rambin, Samtens zur Inselhauptstadt Bergen. Die Straße führt den Besucher dann bis zur Gabelung Karow und nordöstlich weiter bis nach Prora.

Etwa in der Höhe des Kleinbahnhofs hat die Landbrücke zwischen Prorer Wiek und dem Kleinen Jasmunder Bodden nur noch eine Breite von 1,3 Kilometern. Hier streckt sich die Schmale Heide in Nord-Süd-Ausdehnung zwischen dem Fischerdorf Neu Mukran und dem alten Modebad Binz. In diesem Abschnitt erhebt sich eine gewaltige Stahlbetonwand von 5 sechsgeschossigen Wohnhäusern von jeweils 500 Metern Länge, die gleich den Waggons eines 4,5 Kilometer langen Riesenzuges in einer leichten konkaven Krümmung sich dem Küstenverlauf der Seeseite anpassen. Es ist der imponierende Nachlaß des "Seebades Rügen".

Seit Kriegsende bis zur politischen Wende 1990 war diese Anlage militärisches Sperrgebiet. Ende 1992 zog die Bundeswehr aus den übernommenen NVA-Dienststellen ab. Seit dieser Zeit wirbt die 170 Hektar große Bundesliegenschaft um Investoren. Diese sind dünn gesät, zumal der Gebäudekomplex seit 1994 (glücklicherweise) unter Denkmalsschutz gestellt wurde. Zur Vereinfachung und vor allem der Abkürzung eines Raumordnungsverfahrens schrieb der Bund eine "Machbarkeitsstudie" aus. Ende 1995 erhielt die Berliner Stadtsanierungsgesellschaft S.T.E.R.N. den Zuschlag.

Dieses Unternehmen machte sich einen guten Namen mit der "behutsamen Stadterneuerung" Kreuzbergs in den 80er Jahren. Der Bauunternehmer Willi Plattes ist damit zum neuen ungekrönten König von Rügen geworden. Im Schulterschluß mit S.T.E.R.N.-Chef Hardt-Walther Hämer und der Berliner Landesbank (49 Prozent Unternehmensanteile) soll eine zehnjährige Generalsanierung durchgeführt werden. Ein Kompromiß mußte gefunden werden, weil die Nutzung als "Bettenburg" mit rund 5.000 modernen Hotelzimmern abgelehnt wurde. Derartige Touristenkonzentrationen können sich nur noch sonnensichere Breitengrade dauerhaft leisten, abgesehen von anderen regional bedingten Einwänden. Ein Mischkonzept mit 3.000 Übernachtungsmöglichkeiten, einer Wohnanlage für 1.500 Mieter, diversen Freizeiteinrichtungen und integriertem Bestandsschutz für bereits vorhandene Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe muß nun Gestalt annehmen. Von letztgenannter Bedingung hängen immerhin etwa 1.800 Arbeitsplätze ab, davon gegenwärtig 1.400 als ABM. Der Zusammenbruch des Arbeitsmarktes auf der Insel mit der Wende wirkte sich sozialpolitisch gravierend aus. Die ehemaligen Hauptarbeitgeber FDGB und NVA, Landwirtschaft und Fischerei, Schiffbau und Kreideherstellung fielen gänzlich weg oder wurden nach drastischem Personalabbau durch Nachfolger weitergeführt. Die Folge war ein Anstieg der Dauerarbeitslosigkeit auf über 25 Prozent.

Profitieren konnte davon bisher die SED-Nachfolgepartei PDS, die von der Zahl der Mitglieder und der Wählerstimmen die stärkste Partei auf der Insel blieb. Ausschlaggebend ist hier aber auch die hohe Konzentration ehemaliger staatsnaher Bevölkerung der DDR. Investoren stehen auf der "roten Insel" deshalb auch unter besonderer Beobachtung und Vorurteil. Andererseits konnten dadurch in- und ausländische Spekulanten nebst ihren politischen Konjunkturrittern weitgehend ferngehalten werden. Rügen gehört zum äußerst strukturschwachen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Eine entwickelte Dienstleistungsbranche benötigt zahlungsfähige Kundschaft. Aus dem Land selber kann diese gegenwärtig kaum kommen. Deshalb liebäugelt man sehr mit EU-Hilfe. Erhalt der Einmaligkeit der Landschaft und der historischen Bausubstanz sind dafür Bedingung. Die Nörgelei profilierungssüchtiger Regionalgrößen über "NS-Protz" ist merklich leiser geworden. Im Gegensatz dazu werden jetzt Projekte gefördert, die mit Natur und Geschichte der Insel Rügen vertraut machen sollen.

Eine Artenvielfalt an Strand- und Wasservögeln konnte sich über Jahrzehnte erhalten. Neben verschiedenen Möwen und Schwalben sind die seltenen Kormorane, die See- und Fischadler zu beobachten. Deshalb auch der heftige Protest der Insulaner gegen Massentourismus und Totalabriß, der anfänglich auch ins Gespräch gebracht wurde. Beide Nutzungsvarianten hätten die seltene Tierwelt vertrieben. Alteingesessene erinnern sich noch der vergeblichen Sprengversuche der russischen Besatzungsmacht, die zum Verlust diverser Fensterscheiben in Binz führte. In den 30er Jahren wurde äußerst solide gebaut.

Architektonisch ist der Gebäudekomplex einmalig in der Welt. Streng genommen müßte das gesamte Projekt äußerlich vollendet werden, um die Gesamtwirkung von Moderne und Neoklassizismus anschaulich werden zu lassen. Doch derartige Vorhaben kann sich kein Staat mehr "der Geschichte wegen" finanziell leisten. Der Interessierte muß sich mit einem Modell begnügen, das auch immer dicht umlagert ist. Interessant ist die Tatsache, daß sich damals wie heute Rheinländer um den Bau bzw. Umbau verdient machen.

Der Architekt Clemens Klotz (1886–1969) und der Baudirektor Willi Heidrich kamen aus Köln. Monumentale Größe entsprach dem Zeitgeist, nicht nur in Deutschland. Klotz erhielt auf der Pariser Weltausstellung 1938 dafür einen Grand Prix gewiß nicht geschenkt. Im Ausland kursierten ähnliche Projekte, zu deren Verwirklichung keine Investoren gefunden werden konnten. Der S.T.E.R.N.-Chef Hämer sagte dazu: "Hier haben wir greifbar in Stein, was wir über das Verhältnis von Architektur und Macht gelernt haben."

Staatsplanwirtschaften, Kennzeichen von Diktaturen, setzen gewaltige Mittel ein zur Darstellung von Macht und Größe, die Ewigkeit symbolisieren soll. Irrig ist die Annahme, daß der "einfache Mann" sich in einer derartigen Architektur "unbedeutend" fühlen muß. Gegenteiliges wird damit ebenso erreicht: Einer derartigen Gemeinschaft anzugehören, die Großartiges schafft, macht selber groß. Ebenso professionell waren die Bauplanung und Bauausführung; geradezu revolutionär die Skelettbauweise, die eine variable Raumgröße für zwei bis sechs Personen vorsah.

Bescheiden dagegen die Nutzung nach dem verlorenen Krieg ab 1945. An Fertigstellung war nicht zu denken und ein geordneter Abriß wäre ebenfalls zu teuer geworden. Als Ausweg blieb eine militärische Nutzung. Die Russen führten scharfe Sprengausbildung durch, Kasernierte Volkspolizei (KVP) und NVA übten realistischen Häuserkampf. Als der Riesentorso nicht kaputtgehen wollte, lebte Prora als Erholungseinrichtung und Kaserne wieder auf. Ab 1956 konnten zur Erholung 1.000 Betten belegt werden. Das legendäre Fallschirmjägerbataillon "Willi Sänger" entstand hier 1961(späteres Luftsturmregiment 40). Technische Schulen der NVA dann von 1969 bis 1990. So viel Staat schaffte von 1936 bis 1990 sichere Arbeitsplätze auf der Insel. Der Umgewöhnungsprozeß muß daher gewaltig anmuten, zumal in so kurzer Zeit. Doch die Nachfahren der germanischen Rugier sind Stürme gewohnt.


 
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