© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/97  18. April 1997

 
 
1000-Jahr-Feiern in Danzig: Umstrittenes Stadtjubiläum wird zur nationalen Manifestation
Frischer Putz für "Polens Attika"
von Hedla Heinka

Der Reisende kann machen, was er will: Aus welcher Himmelsrichtung auch immer er in die Stadt einfährt, das "tausendjährige" Danzig der Hochglanzprospekte wird er sich anders vorgestellt haben. Statt Höhepunkten historischer Baukunst von Barock bis Renaissance, denen die Stadt einst den Beinamen "Königin der Ostsee" zu verdanken hatte, weiträumige Industrieanlagen im Osten und ansonsten die für eine im Sozialismus erweiterte Stadt typischen Blocksiedlungen.

Danzig ist heute eine Industriestadt, so wie es in Warschau direkt nach dem Krieg geplant worden ist. Die fast unzerstörten Hafenanlagen und Werften baute man weiter aus, neue Anlagen und Betriebe kamen hinzu. Mitte der 70er Jahre, als in der Gierek-Ära mit den Milliardenkrediten aus dem Westen die Industrialisierung Volkspolens abgeschlossen werden sollte, wurden der für den Umschlag von Kohle und Eisenerzen nötige Nordhafen und die neue Raffinerie als letzte regionale Großbauprojekte verwirklicht. Die auf planwirtschaftliche Interessen ausgerichtete Industrie an der Ostsee brauchte Arbeiter, und die kamen dann auch seit den 60er Jahren bereitwillig zu Zehntausenden aus ganz Polen nach Danzig. Przymorze, Zaspa, Piecki, Chelm, Suchan – alles Namen von lieblos aus dem Boden gestampften Vororten, die aus bis zu elfstöckigen Hochhäusern bestehen und im Dutzend eine Siedlungseinheit bilden. Vergeblich versuchten die Auftraggeber, der Langeweile und Tristesse dieser Konglomerate dadurch zu entgehen, daß sie die Wohnblöcke mal im Zickzack-Grundriß, mal wie am Lineal gezogen oder einfach durcheinander in die Landschaft setzen ließen. Als Höhepunkt "sozialistischer Baukunst" im neuzeitlichen Danzig darf wohl das größte Wohnhaus des Landes – möglicherweise ganz Mitteleuropas – in der Lumumbystraße in Przyworze bestaunt werden. In der Länge mißt es fast 850 Meter, und in den fast 1.800 Wohnungen sollen etwa 7.000 Menschen leben.

Es bedarf schon einiger Kilometer stadteinwärts, um das moderne Danzig zu verlassen und jenes Danzig zu entdecken, wo der Mythos des "originalgetreuen Wiederaufbaus" des alten Stadtkerns, der "Rechtstadt", die Touristen in Scharen anlockt.

Für dieses Jahr haben die Stadtväter einiges getan, damit die Rechtstadt, an der bereits stark sichtbar der Zahn der Zeit nagte, zu den offiziellen Jahrtausendfeiern besonders glanzvoll erscheinen zu lassen. So erhielten in den vergangenen Monaten einige Straßen frische Teerdecken; Gehwege und Grünzonen wurden neu angelegt. Die Fassaden entlang des Königswegs und in den Seitengassen bekamen einen neuen Putz und frische Farben. Außerdem wird nach 52 Jahren noch immer rekonstruiert: Das Uphagenhaus in der Langgasse erhält sein altes Innere zurück, und das Müllergewerkshaus wird nach alten Zeichnungen und Plänen wiederaufgebaut. Andererseits beseitigte die Stadt auf der Speicherinsel letzte Ruinen.

Alles in allem können die Stadtväter und Organisatoren der 1.000-Jahr-Feiern mit dem Resultat der städtebaulichen Großinventur zweifellos zufrieden sein. Vielleicht war die Rechtstadt noch nie so sauber herausgeputzt wie in diesen Tagen. Es ist schon ein Kuriosum, wenn das Danziger Stadtparlament am heutigen Freitag im Artushof zusammenkommt und die Feiern offiziell eröffnet. Dann nämlich beginnen für die Ostseestadt die zweiten "1.000-Jahr-Feiern" in diesem Jahrhundert. Schon einmal, vor 35 Jahren nämlich, machte sich ein polnisches Gemeinwesen daran, ein Danziger Millennium zu begehen. Doch darüber hüllt man sich heute in Schweigen, zumal es damals sicherlich keinen triftigen historischen Grund zu irgendeinem Millennium gegeben hatte. Vielmehr feierte sich das kommunistische Polen als Erbauer und "Retter Danzigs", jener einst von der "kapitalistischen polnischen Klasse in die Fänge der Deutschen getriebenen" Stadt. Jedoch weisen auch die offiziellen Hochglanzbroschüren, die das Stadtamt zur aktuellen Millenniumsfeier herausgegeben hat, einige Unsicherheiten auf. Jeder der Autoren bezieht sich auf die "Vita prima sancti Adalberti" des Mönches Canaparius, der diese im Jahr 999 niederschrieb und darin über die Missionsreise des Bischofs Adalbert zu den Pruzzen berichtete, die dieser zwei Jahre zuvor unternommen hatte. In dieser Niederschrift, vor 998 Jahren also, taucht erstmals der Begriff "urbs Gyddanyzc" auf, aus dem sich dann im 12. Jahrhundert auf Umwegen das slawische "Kdancz" (heute polnisch "Gdansk") herausbildete. Was "urbs" nun genau bedeutete, darüber gehen die Meinungen der Historiker weit auseinander: Während im Westen darunter ein ganzer "Burgbezirk" verstanden wird, geht man im ersten offiziellen Prospekt zu den Feiern davon aus, daß "urbs Gyddanyc" der "Beginn des heutigen Danzigs" gewesen sei und daß "wahrscheinlich" bereits befestigte Hafenanlagen und Kais vorhanden waren.

Der "Bund der Danziger", also der landsmannschaftliche Zusammenschluß der vertriebenen Bewohner Danzigs, kommentierte die anstehenden Jubiläumsfeierlichkeiten mit folgenden historischen Hinweisen: "Die eigentliche Entwicklung der ’Rechtstadt’ als Mittelpunkt der heutigen Stadt Danzig begann im 12./13. Jahrhundert. 1186 berief Fürst Subislaus vornehmlich deutsche Mönche in das Kloster Oliva. Um 1225 entstand neben der slawischen Siedlung und der Burg der pommerellischen Fürsten durch Lokation (Einsetzung) Herzog Swantopolks eine völlig neue Siedlungseinheit, die deutschrechtliche Stadt Danzig. 1263 erhielt sie eine Abschrift des ’Lübischen Rechts’."

Nimmt man die Danziger Feiern als Gradmesser zum Stand der deutsch-polnischen Beziehungen, so muß man enttäuscht sein. Es scheint so, als wolle man nicht nur den Tourismus ankurbeln, sondern auch eine Geschichte Danzigs sichtbar machen, die polnischer gezeichnet wird, als dies angesichts der geschichtlichen Fakten vertretbar ist. In den offiziellen Begleitschriften ist durchgängig vom "Polnischen Attika" die Rede, man liest von der Gründung der "ersten polnischen Börse", der "ersten polnischen akademischen Gesellschaft", dem "ersten polnischen Gymnasium", und in den Speichern auf der gleichnamigen Insel "wurde hauptsächlich polnisches Getreide gelagert". In einem Zeitungsinterview zählte der in Danzig an der Hochschule lehrende Historiker Andrzej Januszajtis beim Danziger Philosophen Bartholomäus Keckermann dessen deutsche Muttersprache gar zu seinen Fremdsprachenkenntnissen. Ein anderer Zeitungsbeitrag erinnert an die "Okkupation" der Freien Stadt Danzig durch das Deutsche Reich im Jahre 1939, ohne die sich aufdrängende Frage zu beantworten, was dann sechs Jahre später mit der zu weit über 90 Prozent deutschen Einwohnerschaft geschehen ist. Die Vertreibung der Danziger oder der Schauprozeß gegen den letzten deutschen Bischof der Stadt, Carl Maria Splett, der zehn Jahre zu Unrecht in polnischer Haft zubrachte, sind der offiziellen Stadtchronik keiner Erwähnung wert. Berücksichtigt man das selektive historische Gedächtnis, wie es in der Bundesrepublik Deutschland heute gepflegt wird, so wird es den polnischen Lokalpatrioten garantiert nicht schwerfallen, jungen deutschen Besuchern eine polnische Kontinuität der Stadt darzustellen: Danzig ist ja nicht zuletzt als Geburtsort der jüngsten polnischen Freiheitsbewegung zu weltweiter Berühmtheit gelangt. Hier gründeten 1980 Werftarbeiter die Gewerkschaft "Solidarnosc" und brachten damit den ganzen Ostblock ins Wanken. Lech Walesa höchstpersönlich sorgte denn auch dafür, daß in den Sommermonaten drei Könige und drei Präsidenten (darunter im Juni Roman Herzog) in die Stadt anreisen und mit Richard von Weizsäcker, George Bush und Margaret Thatcher drei "Freunde" des ehemaligen polnischen Präsidenten die Ehrenbürgerrechte verliehen bekommen.

Und die alten Danziger? – Die vertriebenen Katholiken haben ausgerechnet in diesem Jahr keine Wallfahrt in die Heimatstadt organisiert, sondern zu Adalberts böhmischen Geburts- und Wirkungsstätten. Und für Werner Hewelt, den Leiter des Danziger Landesmuseums in Lübeck, ist es "das Recht eines jeden Gemeinwesens, sich seine ’Jubiläumsfeiern’ nach eigenem Ermessen festzulegen". Sowohl Hewelt als auch Hans-Jürgen Schuch, Leiter des Westpreußischen Landesmuseums in Münster, bemühen sich, bei den Millenniumsfeiern trotz abweichender Geschichtsauffassung präsent zu sein. Beide haben Ausstellungen organisiert, in denen wenigstens am Rande die deutsche Vergangenheit der einst reichen Hansestadt zum Zuge kommt.


 
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