© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/97  18. April 1997

 
 
Vom Verfassungsschutz zur Gesinnungskontrolle
Forumsartikel
von Hans-Helmuth Knütter

Im April 1962 veröffentlichte der Bundesinnenminister eine Denkschrift über "Erfahrungen aus der Beobachtung und Abwehr rechtsradikaler und antisemitischer Tendenzen 1961." Das war die Geburtsstunde der heutigen Verfassungsschutzberichte. Wie heute, so gab es auch damals einen politischen Anlaß. Selbst in jenen politisch ruhigen Zeiten tauchten von Zeit zu Zeit phantastische Berichte über den Rechtsextremismus auf. So alarmierten Horrormeldungen über 70.000 rechtsradikale Jugendliche die in- und ausländische Öffentlichkeit. Der offenkundige Unsinn wurde geglaubt und "schädigte das deutsche Ansehen im Ausland". Diese feige Phrase tauchte bereits damals auf und veranlaßte das Innenministerium zur Richtigstellung, es habe nie mehr als 2.300 rechtsradikale Jugendliche gegeben. Das "deutsche Ansehen" war gerettet, und eine Notwendigkeit für jährlich erscheinende Berichte wurde zunächst nicht gesehen. Das änderte sich erst Ende der sechziger Jahre. Unter dem Eindruck der ersten großen Legitimationskrise der "freiheitichen demokratischen Grundordnung" durch die kulturrevolutionäre Bewegung um 1968 kam man im Innenministerium auf die Idee, zur vorbeugenden Gefahrenabwehr einen amtlichen Bericht herauszugeben. War doch die Demokratie bedroht und zwar nunmehr von links: "Der Osten wird rot und der Sozialismus siegt."

So entstanden die Verfassungsschutzberichte, die sich im Laufe der Zeit als ein Teil von jener Kraft erweisen sollten, die zwar das Gute will, jedoch das Böse schafft. Denn sie boten natürlich keinen objektiven Spiegel der Lage, sondern waren Ausdruck der politischen Interessen der jeweiligen Regierung. Der erste Bericht von 1962 sollte die Gefahr des Rechtsextremismus herunterspielen. Linksextremismus gab es damals nur als Bedrohung von außen, vom kommunistischen Osten. Innenpolitisch war er bedeutungslos und unterlag einem rigorosen Staatsschutzrecht. Der Bericht war damals nüchtern-sachlich. Das ist heute anders. Die Verfassungsschutzberichte haben sich von einem sachlichen Informationsmittel zu einem Instrument der Meinungslenkung entwickelt.

Der Haupteinwand gegen den vor wenigen Tagen veröffentlichten Bericht für 1996 richtet sich gegen die ungleiche Gewichtung des linken und des rechten Extremismus. Der linke wird auf 62 Seiten, der rechte auf 86 Seiten vorgestellt. Dem Ausländerextremismus sind 45 Seiten der Spionage 19 Seiten gewidmet. Die linksextremen bürgerkriegsählichen Krawalle um den Castor-Transport waren noch in frischer Erinnerung, als Bundesinnenminister Kanther vier Wochen später, am 8. April, seine Erkenntnisse präsentierte. Korrekt wies er auf die zunehmende Anzahl linksextremer Gewalttaten hin (von 572 auf 654 Delikte im Vergleich zum Vorjahr). Wenn es aber um Straftaten insgesamt, also nicht nur um Gewaltkriminalität geht, dann ist das Verhältnis links zu rechts 932 zu 8730 Taten. Dennoch berichteten die Zeitungen: "Weniger rechtsextreme Gewalt". In der Tat liegt einer der Mängel dieser Berichte in den unklaren Zurechnungskriterien. Zu recht dokumentierte die linke taz (09.04.97) die Wirrsal: "Die Lagebeurteilung des Innenministers sorgte denn auch bei den Journalisten für Verwirrung. "Rechtsextremistische Straftaten um 11 % gestiegen", titelte die Nachrichtenagentur AFP. Die dpa meldete dagegen: "Gewalttaten von Linksextremisten wieder gestiegen, und die Agentur AP sah derzeit keine Terrorgefahr von links oder rechts!" Der Grund für die Unterschiede wird aus dem Bericht selbst deutlich: Jede (linke) Gewalttat wird auch dann nur einmal gezählt, wenn sie aus zahlreichen Einzeldelikten besteht. Wenn z. B. bei einem linken Krawall Polizisten verletzt, Geschäfte geplündert, Autos zerstört werden, dann gilt das alles als ein Fall von Landfriedensbruch, also als eine Gewalttat! Wer’s nicht glaubt, der lese nach. So steht’s auf Seite 26.

Beim rechten Spektrum werden hingegen die "Propagandadelikte" mitgezählt, ein Tatbestand, den es auf der linken Seite nicht gibt. Wenn z.B. irgendwo ein Hakenkreuz angemalt wird, dann ist das ein Propagandadelikt, wie die Aufforderung "Ausländer raus", "Aufstachelung zum Rassenhaß" wäre. Selbstverständlich ist die linke Schmierage "RAF lebt" oder "Deutschland verrecke" weder das eine noch das andere. Auf diese Weise kommen dann 6.555 von 7.059 rechten Vergehen zustande. Narrenspiegel der Statistik!

Aber der Bericht bietet durchaus auch gute, brauchbare Informationen. Entscheidende Teile der PDS werden in ihrem extremistischen, verfassungsfeindlichen Charakter vorgeführt. Die Beispiele sind eindeutig, und das Innenministerium scheut sich nicht, Gewaltpropaganda von PDS-Bundestagsabgeordneten wie Eva Bulling-Schröter namentlich zu benennen. Bezeichnend, daß die Medien dies alles verschweigen. Umso wichtiger und empfehlenswerter ist dieser Teil des Berichts, der in wenigen Wochen gedruckt vorliegen wird und dann beim Ministerium kostenlos angefordert werden kann. Man sollte den Bericht gegen den Strich lesen. Was wird alles nicht gesagt oder nur angedeutet? Da ist die "Autonome Antifa (M)" in Göttingen, gegen deren führende Mitglieder, 17 an der Zahl, ein Strafverfahren lief, das 1996 sang- und klanglos gegen Zahlung einer Buße und eine lächerliche Wohlverhaltenserklärung eingestellt wurde. Zahlreiche Sympathisanten – auch aus DGB-Gewerkschaften, der SPD und den Grünen – haben sich diesen Linksextremisten solidarisiert. Die Frankfurter Rundschau hat die Solidaritätserklärung im Juni 1996 veröffentlicht. Nichts davon findet sich in diesem Bericht. Ein besonders übles Kapitel ist die "Intellektualisierung des Rechtsextremismus". Wovor soll der Verfassungsschutz schützen? Vor "Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zm Ziele haben." Weil es – im Gegensatz zum kriminellen Linksextremismus – keinerlei Aufrufe zu Krawallen oder Bastelanleitungen für Sprengsätze in der JF gibt, hat der Verfassungsschutz NRW "tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht rechtsextremer Bestrebungen" entdeckt. "Was Fritz über Franz sagt, das kennzeichnet mehr Fritz als Franz" – an dieses Witzwort erinnert diese "Einschätzung". Sie kennzeichnet mehr den Verfassungsschutz als den Betroffenen. Wo Tatsachen fehlen, da müssen Verdächtigungen und Interpretationen her. Eine staatliche Sicherheitsbehörde soll Staat und Gesellschaft vor politischer Kriminalität schützen und hat sich – wie das in den Anfangsjahren der Bundesrepublik auch der Fall war – auf knallharte Fakten zu beschränken. Was heute geschieht, ist aber eine Fehlentwicklung hin zur Gesinnungskontrolle, die gerade in der Ungleichbehandlung von Links und Rechts zum Ausdruck kommt. Über die Republikaner heißt es zum Beispiel, sie "versuchen, das Individuum der Gemeinschaft unterzuordnen und damit den besonderen Stellenwert, den das Grundgesetz den Individualgrundrechten und den Menschenrechten zumißt, zu vermindern". Alle diese "Anhaltspunkte" sind nichts als Meinungsäußerungen, die allenfalls diskutabel, aber auf keinen Fall extremistisch und gesetzwidrig sind. Vielmehr verstößt die Interpretation des Verfassungsschutzes, der kein zeitgeschichtliches Institut und keine Glaubenskongregation ist, gegen die Meinungsfreiheit und überdehnt unzulässig den § 3 Abs. 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes, der wie zur Selbstentlarvung auf Seite 10 abgedruckt wird.

Warum wird auf der Rechten die "Intellektualisierung" als besondere Gefahr angesehen, auf der Linken hingegen nicht? Hat es etwa jüngst nicht eine Solidarisierung mit der illegalen linksextremistischen Zeitschrift radikal gegeben, an der sich zahlreichen "Intellektuelle", darunter beamtete Professoren, beteiligt haben? Unterhält nicht die DKP mit der Marx-Engels-Stiftung eine linksintellektuelle Kaderschmiede (S. 62), ganz zu schweigen von der PDS, die sich auf ganze Scharen von "abgewickelten" SED-Wissenschaftlern, Journalisten, politischen Experten, Lehrern und Künstlern stützen kann? (S. 70) Linke und linksextreme Intellektuelle, Journalisten und Künstler hat es nach 1945 immer gegeben und zwar jenseits der engen parteilichen Bindung. Hier liegt ein Grund für den unverhältnismäßig großen Einfluß der Linksextremisten und ihrer Sympathisanten in Presse, Funk, Fernsehen und Bildungsinstitutionen. Dies nicht zu erwähnen, ist Ausdruck jener Vorsicht, die als der bessere Teil der Tapferkeit gilt. Wenn der Bericht wirklich nur die tatsächliche Verfassungsgefährdung durch kriminellen Extremismus darstellte, müßte die linke Seite weit überwiegen. Das wird auch angedeutet: Es fehle rechten Gewalttätern an Unterstützung. Im Gegensatz zur Linken gibt es keine rechtsextremen Strategiekonzepte (S. 97). Wohl hat man zahlreiche Waffen beschlagnahmt, aber angewendet wurden sie nicht, denn es gibt keine rechtsterroristischen Gruppen, die auf der linken Seite sehr wohl existieren. Da nicht sein kann, was nicht sein darf – d. h., die linke Gefahr darf nicht größer sein als die rechte – muß man sie eben aufbauschen. Mit Hilfe der Propagandadelikte und Gesinnungskonrolle ("Anhaltspunkte") wird die rechte Gefahr trickreich vervielfältigt.

Wie weit hingegen der Linksextremismus bis ins Zentrum der Gesellschaft vorgedrungen ist, haben die bürgerkriegsähnlichen Castor-Krawalle gezeigt. Die FAZ, die manche Linksextremisten gerne ins rechte Spektrum einordnen, schrieb dazu: "Mit einem logistischen Aufwand, der vor ein paar hundert Jahren noch gereicht hätte, ganze Länder zu erobern, bahnten Polizisten und Grenzschützer sechs Lastwagen eine zwanzig Kilometer lange Straßenstrecke." Der niedersächsische Ministerpräsident Schröder und der Innenminister Glogowki wandten sich gegen die Transporte, für die ihre Untergebenen den Kopf hinhalten mußten. "Daß staatlich verbrieftes Recht von denen, die es auszuführen haben, für unsinnig erklärt wird, … war noch nicht da", kommentiert die FAZ. Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Eckhard Jesse hat in der FAZ vom 9. April die Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder einer vergleichenden Kritik unterzogen. "Offenkundig legt der Verfassungsschutzbericht die Meßlatte für die beiden Formen des Extremismus nicht gleich hoch an. Rechtsextremistische Bestrebungen werden ausführlicher, konkreter und detaillierter nachgezeichnet als linksextremistische. … Seit fast dreißig Jahren wurde keine linksextremistische deutsche Organisation mehr verboten, hingegen eine Vielzahl von rechtsaußen." Jesses Beitrag zeugt wegen seiner kritischen Tendenz von einem geradezu selbstmörderischen Mut. Ist doch das von ihm mitherausgegebene Jahrbuch "Extremismus & Demokratie" vom Wohlwollen des Innenministeriums abhängig, und der Autor dieses Beitrages weiß aus eigener Erfahrung, wie schnell Leute, die nicht so wollen wie sie sollen beim Establishment in Ungnade fallen und das umso eher, je unsicherer dieses Establishment seiner eigenen Werte wird. "Die Beibehaltung der Verfassungsschutzberichte ist zu wünschen", schließt Jesse seine Analyse, die auch den gegenteiligen Schluß zuließe.

Was auf jeden Fall nicht nur beibehalten, sondern sogar verstärkt werden sollte, ist die kritisch-distanzierende Kommentierung dieser Art von Propaganda der jeweiligen Regierungsparteien des Bundes und vor allem der Länder. Wenn beim Bestreben, die Grundrechte zu schützen, Grundrechte tendenziell eingeschränkt werden (und dafür gibt es "tatsächliche Anhaltspunkte"), dann ist etwas faul im Staate BRD.

Nötig ist ein alternativer Bericht, der ergänzt, was der offizielle Bericht aus naheliegender politischer Opportunität verschweigt. Zu diesen Lücken zählen:

  • die Annäherung der SPD an die PDS,
  • Linksextremismus bei den Grünen, deren Führungsriege fast vollständig aus maoistischen Gruppen stammt,
  • Jusos und Juso-Hochschulgruppen in ihrem Verhältnis zu Stamokap-Gruppen, Trotzkisten und "Autonomen",
  • die "Intellektualisierung des Linksextremismus,
  • Linksextremismus in den Medien, Rote Zellen in Rundfunk- und Fernsehanstalten,
  • Extremisten im öffentlichen Dienst,
  • linksextremistische Einflüsse in den Kirchen.

Wem an einer Veränderung des politischen Klimas in diesem Lande gelegen ist, der sollte sich hier engagieren.


 
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