© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/97  25. April 1997

 
 
Rest-Jugoslawien: Belgrads Bürgermeister Zoran Djindjic über die Zukunft seines Landes
"Der Präsident erzeugt Chaos"
Interview mit Dr. Zoran Djindjic

Herr Bürgermeister, Sie sind jetzt seit einigen Monaten im Amt. Wie stellt sich die Situation der Opposition gegenüber der Regierung im Moment dar?

DJINDJIC: Wir sind in Belgrad jetzt seit ungefähr 45 Tagen im Amt. Man kann die Lage in Belgrad nicht unabhängig von der allgemeinen politischen Lage analysieren. Das Land befindet sich in einem Vakuum. Man erwartet seit einer gewissen Zeit, daß sich etwas bewegt, aber das tut es nicht. Es gibt keine Reformen, keine Öffnung, keine Integration. Weder wirtschaftlich gesehen noch politisch. Man hat den Eindruck, daß Milosevic wartet, daß etwas geschieht, aber niemand weiß, worauf und was geschehen soll. Wir haben eher automatisch und spontan mehrere Rollen übernommen. Die außenpolitische Rolle und die innenpolitische – auch die Verwaltung in den Städten. Das ist natürlich sehr schwierig zu trennen, aber es ist auch sehr schwierig, diese drei Dinge alle gleichzeitig zu machen.

Werden die Parlamentswahlen im Herbst eine Klärung bringen in bezug auf dieses Machtvakuum?

DJINDJIC: Ich hoffe schon. Obwohl die Frage schwierig ist. Die ganze Regierung ist sehr instabil und was für Serbien gilt, gilt auch für die anderen Teile der Region. Die desintegrativen Kräfte, die verschiedene Interessen und Motive verbindet, sind momentan noch stärker als die integrativen Kräfte. Viele Kräfte sind politisch. Die konservativen Parteien, die nationalistisch oder kommunistisch sind, sind ethnisch-national: Jedenfalls sind das Eliten oder Gruppen, die gegen das integrative Bemühen wirken. Was uns nach vorne bringen würde, wäre eine Integrationspolitik. Im wirtschaftlichen Sinne nach Maßstäben der westlichen Wirtschaft und im politischen Sinne nach Maßstäben der Menschenrechte, und der politischen Rechte, die in Europa gelten. Ein Paket an Maßnahmen, an Reformen, das unser Land kompatibel macht mit Europa – das würde integrierend wirken. Ob das in diesem Jahr geschieht oder nicht, ist eine große Frage. Ich sehe im Augenblick in der politischen Szene keine typische Masse für so etwas. Ich sehe in den wichtigen Institutionen wie in der Universität, den unabhängigen Medien, der Kirche einen starken Willen für Reformen. Aber innerhalb der Parteien sehe ich auch große Hindernisse und Probleme.

Aber es ist doch so, daß frühestens bei den Wahlen ein entsprechendes Mandat der Bevölkerung gegeben werden kann, um eben diese Demokratisierung, freie Presse, Minderheitenschutz, eventuelle Autonomiefragen zu lösen und damit den Weg nach Europa zu ebnen. Ist es denkbar, daß es dazu nach den Wahlen verstärkt kommen könnte?

DJINDJIC: Damit die Wahlen ein so positives Ergebnis bringen, muß die Lage vor den Wahlen einigermaßen geklärt sein. Aber wenn die Lage chaotisch ist – oder wenn jemand die Lage absichtlich chaotisch macht, dann kann es sein, daß die Wahlen auch ohne ein positives Ergebnis ausgehen. Milosevic erzeugt Chaos. Er erzeugt Chaos in Montenegro, er erzeugt Chaos in der politischen Szene, in der Hoffnung, daß, wenn Chaos herrscht, er als ein Faktor für Ruhe und Ordnung auftreten und er dadurch seine Wirkung als jemand, der Chaos erzeugt, verdecken kann.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Präsidentenfrage? Wie wird Milosevic aus den kommenden Wahlen hervorgehen?

DJINDJIC: Milosevic kann problemlos Präsident von Rest-Jugoslawien werden, da er vom föderalen Parlament die Mehrheit erhalten wird. Er ist im linken Block unumstritten. Es ist aber dann die Frage, was mit Serbien geschieht, welches Erbe er hinterläßt, wie er die Gemeinden und Städte behandelt, ob er sie ohne Kompetenzen, ohne Macht, ohne Geld läßt oder ob in Serbien sich eine Gegenmacht etabliert.

Herr Djindjic, wer wird von seiten der Opposition "Sajedno" der Herausforderer sein für Milosevic, wer wird gegen ihn kandidieren?

DJINDJIC: Milosevic wird nicht kandidieren. Er wird wahrscheinlich durch das Parlament gewählt auf der föderalen Ebene. Jemand aus seiner Partei wird dann in Serbien kandidieren. Ich glaube nicht, daß seine Frau das sein wird. Sie hat sich in den letzten Monaten zurückgezogen und das ist eine kluge Entscheidung. Meine Position ist es hier zunächst einmal, daß die Wahlen ohne unabhängige Medien und ohne Wahlkontrolle nicht als frei zu akzeptieren sind. Unter den jetzt herrschenden Bedingungen kann man keinen Kandidaten aufstellen, weil jeder Kandidat, den wir stellen, kompromittiert wird. Er wird durch diese schmutzige Kampagne, die jetzt geführt wird, vernichtet. Dieser Kandidat hätte keine Chance. Ich bin für zwei Aktionen: Einmal die Koalition von den drei existierenden Parteien zu erweitern mit Studenten, Leuten von der Universität, unabhängigen Leuten, Teilen der Justiz, um dann eine bürgerliche Front für die Wahlen zu bilden. Und auf der anderen Seite müssen zunächst einmal die Bedingungen für die Wahl, ein Programm für die Reformen erstellt werden und erst dann sollte ein Kandidat gewählt werden. Und man sollte nicht umgekehrt sagen: Wir sind drei Parteien und wir haben drei Führer und das ist das, was wir haben und die Leute sollen für diese stimmen. Wenn wir so vorgehen, verlieren wir die Wahlen. Wenn wir anders vorgehen, haben wir eine große Chance, die Wahlen zu gewinnen. Weil wir dann politische und demokratische Teile der Gesellschaft mobilisieren und die sind im Augenblick in der Mehrheit.

In den letzten Tagen fanden Gespräche über den Kosovo statt. Wie sehen Sie die Autonomiebestrebungen der Albaner im Kosovo? Wie stehen Sie und wie steht die Opposition überhaupt zu diesen Fragen der Autonomie?

DJINDJIC: Das ist ein kompliziertes Problem. Regional im allgemeinen Sinne ist die jugoslawische Krise zum Teil so gelöst, daß die territorialen Grenzen der ehemaligen Republiken zu Staatsgrenzen erklärt wurden und daß alle Versuche, die ethnischen Grenzen zu Staatsgrenzen zu machen, gescheitert sind und zum Krieg geführt haben. Das hat sie disqualifiziert. Das heißt, daß es jetzt auch in Serbien nicht möglich ist, auf Basis dieser ethnischen Kriterien Staatlichkeiten zu bilden. Das ist gegen den Willen vieler Albaner, auch von der ethnischen Zusammensetzung des Kosovo her dann einen unabhängigen Staat daraus zu machen. Das wäre im Gegensatz zu dem Prinzip, aufgrund dessen die jugoslawische Krise vorübergehend gelöst worden ist. Auf der anderen Seite: Wenn sich der Kosovo von Jugoslawien trennt, dann trennt sich auch der albanische Teil von Mazedonien, dann ist der Rest von Mazedonien sehr instabil, dann mischen sich Griechenland, Bulgarien, Serbien und die Türkei ein und das wäre eine sehr große Balkankrise. Das heißt, man sollte die Lage der staatlichen Status-quo-Situation als Basis für eine Lösung verwenden. Aber die Lösung ist bestimmt nicht diejenige, die wir jetzt haben.

Dann gibt es Minderheitenrechte?

DJINDJIC: Es gibt Autonomierechte nach der herrschenden Verfassung. Kosovo hat eine Autonomie. Die Verfassung wird nicht praktiziert, weil wir ein Land sind, in dem Gesetze nicht immer praktiziert werden, eher im Gegenteil. Wir müssen das Land so weit demokratisieren, daß ein Praktizieren der Verfassung möglich wird. In dieser Verfassung hat der Kosovo eine Autonomie. Wir müssen als serbische Regierung mit den albanischen Parteien die politischen Inhalte dieser Autonomie bestimmen. Das muß eine wirkliche Autonomie sein. Aber sie darf nicht desintegrierend wirken. Sie müssen den Rechtsrahmen akzeptieren und innerhalb dieses Rechtsrahmens sollen sie für das Maximum an Autonomie kämpfen. Und es sollte ein Gleichgewicht herrschen zwischen den Bestrebungen des Staates, Integrität zu bewahren und den legitimen Versuchen einer Gruppe, soviel Autonomie wie möglich für sich zu bekommen. Es muß ein Kompromiß gefunden werden. Ein Gespräch darüber ist der erste Schritt. Ein erstes Gespräch hat heuer stattgefunden und ich finde, daß das wichtig war.

Herr Djindjic, zurück zum Weg Serbiens nach Europa. Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Rolle Österreichs und Deutschlands, die ja in bezug auf die Zerschlagung des alten Jugoslawiens nicht ganz unumstritten ist. Wie sind die Möglichkeiten für die Zukunft?

DJINDJIC: Ich sehe immer in die Zukunft. Das was geschehen ist, ist geschehen. Und wer was getan hat, ist nicht mehr relevant. Wie soll man sonst aus den Trümmern der alten Welt eine neue Welt bauen können? Für uns spielen Deutschland und Österreich eine wichtige Rolle, weil sehr viele Ex-Jugoslawen da leben. Wir sind auch jahrhundertelang eine kulturelle Einflußsphäre gewesen. Novisad war ein Teil der Monarchie. Die Deutsche Mark ist etwas, was bei uns als normale Währung gilt. Deutsche Technologie, die zu uns gekommen ist, bestimmt unsere Wirtschaft. Die Ersatzteile, die wir dazu brauchen, kamen aus Deutschland und aus Österreich. Österreich ist das nächste richtig westliche Land für uns. Wenn wir nach Westen wollen, dann ist Wien eigentlich für uns die wichtigste Stadt.

Ist Wien eine Brücke für Sie?

DJINDJIC: Ja, das ist für uns eigentlich richtig. Wenn ich persönlich etwas aus dem Westen will, dann fahre ich nach Wien. München ist für uns zu weit, ebenso Italien. Östlich haben wir eigentlich keine besonderen Interessen, beispielsweise in Sofia und Bukarest. Das heißt, es gibt viele positive Beziehungen und die wollen wir ausbauen. Man soll das eigene Interesse präziser formulieren, sehen, wie das Interesse der Nationalwirtschaft ist in Serbien, die Nationalkultur, daß wir unsere Identität bewahren, und damit können wir dann ohne Vorurteile mit jeder Nation kooperieren. Mit Österreich und Deutschland haben wir mehr Gründe zu kooperieren als mit anderen Ländern, die weiter entfernt sind und mit denen wir weniger materielle Zusammenhänge haben. Ich betone die Rolle von Deutschland und von Österreich immer ohne Komplex, obwohl das in der politischen Szene nicht unumstritten ist. Ich glaube, daß sich dieser Zustand in den nächsten Jahren immer mehr verbessern wird und eine gemeinsame Zusammenarbeit für beide Seiten von Interesse ist.

Es war doch so, daß die Europäische Union, die Europäer, in der gesamten jugoslawischen Frage eher versagt haben und daß letztlich die USA als Friedensstifter und Problemlöser aufgetreten sind. Glauben Sie, daß Europa in Zukunft wieder verstärkt außenpolitische Kompetenz auch in bezug auf den Balkan entwickeln muß?

DJINDJIC: Ja, natürlich! Es gibt zwei Arten von Politik: Eine ist eine aktive und die andere ist eine reaktive. Das heißt: die Aufgabe der einen Politik ist es, etwas vorauszusehen und präventiv etwas zu verhindern, also etwas zu unterstützen. Und Europa ist für diese Art der Politik geeignet. Die andere Art der Politik ist es, zu reagieren, vor allem mit Druck, Sanktionen, Gewalt, Militär. Und Amerika ist für diese Art von Politik gut. Wenn die erste Art versagt, dann muß diese zweite Art kommen.

Sehen Sie die USA als Weltpolizist, der da eingreift?

DJINDJIC: Natürlich, das machen sie. Sie übernehmen die Rolle des Starken. Sie haben auch nicht genügend Zeit, um Interessen am Balkan zu untersuchen. Aber die Europäer sind das gewohnt. Die europäische Außenpolitik ist viel detaillierter als die amerikanische. Sie haben nicht die ganze Welt – die haben Europa und Umgebung. Und es ist leider so gewesen, daß zu der Zeit, als die jugoslawische Krise ausgebrochen ist, Europa selbst sich im Umbruch befunden hat. Deutschland und Frankreich mit der europäischen Währungsunion und der Wiedervereinigung Deutschlands und Rußland mit seinem Zerfall. Es gab so viele neue Themen, da konnte man sich nicht auf den Balkan konzentrieren. Ich hoffe, daß dieser europäische Raum jetzt einigermaßen stabil ist, und daß man sich jetzt mehr dem instabilen Teil der Region widmen kann und daß das aktiv geschehen wird. Das heißt nicht im Sinne von Krisenlösung, sondern von Krisenverhinderung. Das kann nur durch Integration geschehen, doch nicht durch Mitgliedschaft in der Europäischen Union, was nicht realistisch wäre. Aber es kann dadurch geschehen, daß man die Presse unterstützt und langsam einheitliche Kriterien für Geschäfte, für das Leben, die Rechte, Verkehr und Ökologie in ganz Europa schafft. Wenn man das unterstützt, dann entstehen dadurch allmählich demokratische Strukturen. Die Amerikaner haben eine andere Sicht. Sie sagen: Zunächst sorgen wir für demokratische Strukturen, dann kommt die Integration. Die Integration kommt nie. Weil die undemokratischen äußeren Strukturen durch diese schlechte Wirtschaftslage erhalten werden. Und die Amerikaner wundern sich, wieso die Diktaturen gerade da entstehen, wo sie Sanktionen einführen. Die Demokratie ist etwas, was eine solide Grundlage braucht. Und die Grundlage ist Wirtschaft, Kommunikation, Gesellschaft. Wenn das als erstes kommt, dann gehen die demokratischen Kräfte gestärkt daraus hervor. Und wenn man die Demokratie als Bedingung stellt, dann kann man sie nicht mit Fallschirmjägern einführen. Hier muß man die demokratischen Kräfte von unten unterstützen. Jeder Einfluß von außen schwächt die demokratischen Kräfte, weil die Mentalität sehr mißtrauisch ist. Wenn die Amerikaner eine Partei unterstützen, dann verliert sie am Balkan bestimmt. Man muß sehr vorsichtig sein, und Europa kann das. Wir sind ein Teil von Europa. Ich hoffe nur, daß sich das Modell der Politik verändert, daß man mehr strategisch plant und handelt. Und das nicht erst dann, wenn die Krise ausgebrochen ist. Denn dann kommt der Amerikaner, und Europa hätte wenig zu sagen.

 

Dr. Zoran Djindjic, Oberbürgermeister der Stadt Belgrad, wurde 1952 in Bosnien geboren und studierte Philosophie in Belgrad. Wegen Plänen zur Gründung einer nicht-kommunistischen Studentenorganisation mußte er das Land verlassen. In Deutschland studierte er bei Jürgen Habermas und promovierte in Konstanz zum Thema "Kritische Theorie". Nachdem Präsident Milosevic die Kommunalwahlen vom November in 14 Städten annullierte, bei denen Djindjic zum Bürgermeister Belgrads gewählt worden war, führte er als Vorsitzender der Demokratischen Partei (DP) gemeinsam mit Vuk Draskovic von der Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO) sowie Frau Pesic von der Serbischen Bürgerallianz (GSS) das Oppositionsbündnis "Zajedno" (Gemeinsam) gegen Präsident Milosevic. Nach den Demonstrationen vom Jahreswechsel wurde diese Annullierung per Sondergesetz aufgehoben. Am 21. Februar wurde Djindjic im mehrheitlich nicht-kommunistischen Belgrader Stadtparlament mit 68 von 109 Stimmen zum Bürgermeister gewählt. Nach Beurteilung westlicher Beobachter ist er der starke Mann Serbiens für die Nach-Milosovic-Ära.

Das Gespräch führte Dr. Andreas Mölzer.


 
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