© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/97  02. Mai 1997

 
 
Krise: Bundespräsident bittet um Hilfe
Herzogs Appell
von Bernd-Thomas Ramb

Die Marketinggesellschaft "Partner für Berlin" hatte eingeladen – und Bundespräsident Herzog hielt die bedeutendste Rede seiner Amtszeit. Laut Einschätzung einer Hamburger Sonntagszeitung zählt sie zu den bemerkenswertesten politischen Grundsatzreden, die in Deutschland in diesem Jahrzehnt gehalten wurden. Das stimmt.

Die höchste Arbeitslosigkeit, die jemals in der Bundesrepublik Deutschland herrschte, die Erosion der Sozialversicherung, die wirtschaftlichen, technischen und politischen Herausforderungen der Globalisierung sind für Herzog "Krisenszenarien", die von einer mutlosen und gelähmten Gesellschaft "gepflegt" werden. Kein Wort über die Schuld der Politiker, die Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten in eine kritische Situation gebracht haben, keine Geste des Bedauerns und der Scham. Statt dessen plumpe Effekthascherei mit süffisanten Bemerkungen über die Kompromißunfähigkeit der Großparteien beim außerparlamentarischen Aushandeln marginaler Schraubendrehungen an der verrosteten Sozial- und Steuermaschine.

Die Deutschen sind schuld, nicht ihre Politiker. Ein mittlerweile eingeübter Reflex bei er öffentlichen Verarbeitung von Sünden der Vergangenheit. Vor allem sind es nach Herzog die "Bedenkenträger", die "große Reformen verschieben und verhindern" wollen. Das Volk der Dichter und Denker hat nach Herzog bereits zu viel überlegt: "Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem". Das Entscheidungsproblem bleibt unerwähnt. Seine pauschalierende Verurteilung gipfelt in dem Vorwurf, bei allen großen Reformvorhaben müßten die Zauderer "wissen, daß unser Volk insgesamt dafür einen hohen Preis zahlen wird. Die betroffenen Reformvorhaben werden vorher aufgezählt: Steuern, Renten, Gesundheit, Bildung und – jetzt kommt es – der Euro. Der bedenkenlose Umsetzer Herzog weigert sich, aus pragmatischen Gründen zur Kenntnis zu nehmen, daß es Bedenkenträger gibt, die gerade den Euro als Ursache der Reformunfähigkeit erkannt haben.

"Die Deutschen haben die Kraft und den Leistungswillen, sich am eigenen Schopf aus der Krise herauszuziehen," formuliert Herzog treffend, vergißt aber anzuhängen "wenn man sie nur ließe". In Zeiten des Maastricht-Vertrags, den nicht nur die Deutschen so nicht wollen, ist Resignation angesichts des Beharrens der Politiker auf die Erfüllung eines Planes, der in der Endphase des Kalten Krieges in ihren Köpfen geboren wurde, mehr als verständlich.

Roman Herzog hat den Mut zur Freiheit aber nicht im Herzen und deshalb wirken seine Beteuerungen unglaubwürdig. Die von Herzog angemahnte Freiheit braucht marktwirtschaftliche Ordnung, sonst artet sie in scheindemokratisch legitimierten Sozialdarwinismus aus. Aber das hat Herzog nicht gesagt – wohlwissend, daß unsere freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in den beiden letzten Jahrzehnten zunehmend von Politikern verschleudert wurde.

In die Geschichte großer politischer Reden eingehen wird wohl der eine Satz seiner bemerkenswerten Rede, den er der Diskussion um die Steuerreform widmete: "Dazu fällt mir nach der Entwicklung der letzten Tage überhaupt nichts mehr ein." Er kennzeichnet in seiner flüchtenden Ironie die resignierende Hilflosigkeit der deutschen Politiker vor den Trümmern ihrer Politik. Zu den ordnungspolitischen Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnten hätte ihm durchaus einfallen können: "Wir haben geirrt – der Maastricht-Vertrag führt Europa in die Sackgasse, der Euro schadet nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der politischen Zusammenarbeit, ja dem Frieden in Europa."

Den Mut der Deutschen wiederzuerwecken erfordert zunächst Politiker, die den Mut aufbringen, die Wahrheit zu sagen und Irrtümer einzugestehen.


 
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