© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/97  02. Mai 1997

 
 
Lugano: Tessiner Institut ISIS will europaweit wichtige politische Impulse geben
"Ein neuer Sozialvertrag muß her!"
von Martin Schmidt

Erst seit Herbst vergangenen Jahres verfügt das italienischsprachige Tessin über eine eigene Universität in Lugano. Bis dahin waren studienwillige Tessiner gezwungen, ihre akademische Laufbahn an Hochschulen in der Romandie oder der Deutschschweiz zu beginnen, wo sie dann nicht selten nach dem Examen "hängenblieben". Die Folge war ein schleichender intellektueller Substanzverlust. Erkannt worden ist diese Gefahr schon länger. So hatte sich bereits vor 20 Jahren in Lugano ein Akademikerkreis zusammengefunden, um auf privater Basis Universitätsbildung vor Ort zu organisieren. Als dieses Vorhaben der "Initiative für die wissenschaftliche Forschung und Universitätsstudien" vor gut einem halben Jahr schließlich von Bern aus erfüllt wurde, nahm der innovationsfreudige Zirkel aus schweizerischen und italienischen Wissenschaftlern, Politikern (zumeist der rechtsliberalen Schweizer FDP), Journalisten und Kulturschaffenden mit dem "Istituto Stato-Individuo-Società" (Institut Staat-Individuum-Gesellschaft), kurz: "ISIS", sogleich ein neues Projekt in Angriff. Das von einer Stiftung getragene Institut unter der Präsidentschaft Enzio Bertolas verfolgt mit seinen die Fundamente heutigen Wirtschafts- und Soziallebens betreffenden Ideen einen gesamteuropäischen Anspruch. Zunächst einmal unterhält ISIS – sozusagen als institutionellen Unterbau – mittels Italienisch-Sprachkursen eine direkte Verbindung zur Universität Lugano und verfügt außerdem über einen Stipendienfonds sowie einen eigenen Verlag. Nach wie vor, so Präsident Bertola, beziehe die restliche Schweiz das Tessin nicht richtig ein. Man wolle nun selbst dazu beitragen, die italienischen Bevölkerungsgruppen im Tessin und in Graubünden stärker zusammenzufassen und die wichtigen Kontakte zu den angrenzenden italienischen Regionen intensiver zu pflegen.

Doch das entscheidende sind die großen Ideen, die ISIS im Sinne einer umfassenden Gesellschaftsreform vorschweben. Nachdrücklich betont man, daß die unübersehbare soziale und ökonomische Krise der Gegenwart alle wesentlichen entwickelten Länder betreffe, wenngleich natürlich im Detail große Unterschiede bestünden. Die Vereinigten Staaten zum Beispiel erfreuten sich, so der an ISIS mitwirkende Florentiner Carlo Vivaldi-Forti, der weltweit "gesundesten Ökonomie"– als Spätfolge von zwölf Jahren "Reaganomics".

In Europa befinden sich nach Ansicht der ISIS-Stifter Deutschland und die Niederlande noch in der besten Situation, während Italien und Griechenland ökonomisch die Schlußlichter markieren – beides infolge langjähriger Linksregierungen. Der Ursprung der heutigen Krise sei in allen hochindustrialisierten Ländern gleich: ein Zuviel an Ausgaben und Steuern, die es unbedingt herabzusetzen gelte.

Die moderne, hochentwickelte Gesellschaft kann den ISIS-Thesen zufolge als Resultat eines hundertjährigen Klassenkampfes betrachtet werden. Am Anfang der Ära der Industrialisierung sei fast die gesamte soziale und ökonomische Macht in den Händen einiger "Kapitalisten" konzentriert gewesen. Um möglichst schnell aus der agrarisch geprägten Epoche ins Industriezeitalter übergehen zu können, habe es zwingend der Anhäufung großer Reichtümer in einigen wenigen, investitionswilligen Händen bedurft. Eine mehr oder minder krasse Ausbeutung der Arbeiter sei zunächst einmal die natürliche Konsequenz gewesen. Nach und nach hätten die Kapitalkonzentrationen jedoch ein solches Ausmaß angenommen, daß – wiederum zwangsläufig – der Verteilungskampf eingesetzt habe. Gewerkschaften entstanden, die immer mächtiger wurden und immer weitreichendere Arbeiter-Schutzgesetze durchsetzen konnten. Nicht als Folge einer speziellen Sozialphilosophie, sondern als Ergebnis einer Vielzahl von Maßnahmen und gedanklichen Anstößen habe sich der "Sozialstaat" herausgebildet.

Entgegen der landläufigen Meinung ist die Auffassung von der Notwendigkeit des modernen Sozialstaates Vivaldi-Forti zufolge keineswegs linken Ursprungs gewesen, sondern kann als Folge zentrumsrechter und katholischer Überzeugungen interpretiert werden. Um 1900 habe die extreme sozialistische Linke gegen jedweden Kapitalismus Front gemacht und den Sozialstaat als geschickte Methode des Bürgertums betrachtet, die Ausbeutung der arbeitenden Klasse in anderer Form fortzusetzen. Faktisch basierte das moderne kapitalistische System den ISIS-Vordenkern zufolge stets auf folgender Ausgangsstellung: Die Proletarier drohten den Besitzenden mit Enteignung, worauf letztere mit immer großmütigeren sozialen Maßnahmen reagierten. In der Vergangenheit sicherte dieser ewige Klassenkampf nicht nur eine konsensfähige Verteilung der finanziellen Ressourcen, sondern war die Grundlage schlechthin für die bis in die Gegenwart andauernde Massenkonsumgesellschaft und für einen relativen sozialen Frieden.

Doch inzwischen, nach fundamentalen Veränderungen statistischer Rahmenbedingungen (Bevölkerungsschwund; massiven bürokratischen Hem-mnissen ökonomischer Tätigkeit; kaum tragbaren Sozialbeiträgen für die Unternehmen; allgemein viel zu hohen Steuern usw.), sei – so sagen die ISIS-Verantwortlichen – dieser traditionelle Kompromiß, den man den Sozialstaat nennt, zum schlimmste Feind einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung geworden. Während früher der Schutz des Staates für die ärmeren Leute das vordringliche Gebot des Fortschritts gewesen sei, so müsse es gegenwärtig als unabdingbar erkannt werden, alle sozialen Kräfte (und Kapital gehöre zu deren wichtigsten) wieder zu befreien. Vor allem gelte es nicht nur, eine ganze Latte von Gesetzen umzukrempeln, sondern es müsse sich auch die Mentalität der Menschen total ändern. Der althergebrachte Klassengegensatz zwischen dem individuellen Interesse und dem der Allgemeinheit müsse überwunden werden. Eine neue, auf bestimmten Werten gegründete Gemeinschaft könne nur aus der Ersetzung des Entweder-oder-Denkens durch eine Perspektive des Sowohl-als-Auch entstehen. "Ein neuer Sozialvertrag muß her – und zwar möglichst schnell!", forderte Vivaldi-Forti gegenüber der JF.

Konkret beabsichtigt das Internationale Studienzentrum ISIS in Lugano, für jeweils zwei bis drei Jahre Rahmenthemen zu benennen, zu denen dann Fachleute "Dossiers" erstellen sollen, mit denen man auf die europäischen Parlamente und andere entscheidungsrelevante Gremien einwirken will. Natürlich soll es auch Veröffentlichungen für ein breiteres Publikum sowie größere Kongresse geben.

In der Geschichte hat sich das Tessin als Zufluchtsort italienischer Flüchtlinge aus Österreich-Ungarn und als Bastion des Risorgimento schon einmal als ergiebiges Experimentierfeld für neue Ideen erwiesen. Heute befindet es sich infolge massiver Zuwanderung (die Alteingesessenen stellen nur mehr eine Minderheit dar) in einer tiefen Identitätskrise. – Beides erklärt, warum das ISIS-Projekt, das in manchem an die kommunitarischen Thesen in den USA erinnert, gerade in Lugano entstanden ist.

Kontaktanschrift: Institut ISIS, c/o SIRSSU.CP 111, CH-6906 Lugano


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen