© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/97  02. Mai 1997

 
 
Pankraz, Th. Kuhn und die Differenz von Sekten und Insekten
von Günter Zehm

Wie Fliegen auf dem Streuselkuchen vermehren sich – trotz der knappen Etats überall – die Lehrstühle für Geistesüberwachung. Es wimmelt mittlerweile von gutdotierten "Extremismusforschern", "Totalitarismusforschern", "Antisemitismusforschern", "Sektenforschern", "Jugendbandenforschern" usw. Das, was ursprünglich "Politologie" hieß, dröselt sich immer mehr auf. Und je mehr es sich aufdröselt, um so schneller verschwindet der Geist der Wissenschaft aus den Fächern. Aus Professoren werden Kommissare.

Schon obszön ist dabei das zähe Beharren auf dem guten alten Wort "Forscher". Was ist ein Forscher, nach traditionellem Verständnis? Doch zweifellos einer, der geistiges Neuland betritt, der Nichtwissen peu à peu und mit großer Pingeligkeit in Wissen verwandelt und dem sich die Dimension seines Forschungsgebietes erst allmählich, mit fortschreitendem Wissen, erschließen. Der Forscher neuen Stils, der Extremismusforscher beispielsweise, kann über solche Bestimmungen nur lachen. Denn seine Arbeit besteht gerade darin, eine vorgegebene Dimension auszufüllen und für unübersteigbar zu erklären. Dennoch begehrt er, ein "Forscher" zu sein, und die Behörden bestärken ihn darin.

Ein Forscher alten Stils, ein Polarforscher etwa oder ein Insektenforscher, ging stets davon aus, daß er mit seinen Methoden unter Umständen vollständig scheitern könne, daß er alle seine Erwartungen, den Forschungsergebnissen entsprechend, von Grund auf werde umstoßen müssen. Der Extremismusforscher seinerseits kann (und will) überhaupt nichts umstoßen, er kann höchstens selber umgestoßen werden, dann nämlich, wenn er auf den verwegenen Einfall kommen sollte, am Methodenwert des ihm von der Behörde vorgegebenen Extremismusmodells Zweifel anzumelden. "Ich zweifle, also bin ich nicht." Pankraz möchte nun keineswegs den praktisch-sozialen Wert der Extremismusforscher und ähnlicher Forscher neuen Stils in Frage stellen. Die Behörden brauchen bei dem, was sie tun (besonders dann, wenn sie es mit gemischten Gefühlen tun), geistig-geistlichen Beistand; das war immer so und wird sich wahrscheinlich auch nie ändern. Früher standen den Fürsten und ihren Amtswaltern üblicherweise Theologen bei, Geistliche, Pfaffen, die die Behördenschritte als mit dem Glauben vereinbar absegneten. Nicht anders war es bei den Kommunisten, wo Offizieren oder Betriebsleitern Politkommissare oder Parteisekretäre attachiert waren, die für die Einhaltung der reinen Lehre zu sorgen hatten. Niemals wäre den Pfaffen und Kommissaren aber beigekommen, sich als Forscher auszugeben. Sie waren sich ohne weiteres darüber klar und gaben es nötigenfalls auch gerne zu, daß sie nichts zu erforschen, sondern daß sie lediglich etwas zu bewachen hatten, daß sie abzuwehren, potentielle (oder auch bloß eingebildete) Feinde zu denunzieren, fernzuhalten und auszumerzen hatten. Die den heutigen Behörden beigegebenen Aufseher und Denunziatoren haben diese schöne Naivität verloren. Sie wollen nicht mehr zugeben, daß sie etwas bewachen, sondern tun so, als würden sie erst etwas herauskriegen, was noch niemand weiß. Ihr so energisch eingeforderter Forschertitel ist ein Opfer an das herrschende "Paradigma" der Wissenschaft.

Freilich ist es ein Opfer, das den Gott, dem da geopfert wird, in heillose Bedrängnis bringt. Das ursprünglich freundliche, erkenntnishelle, liberale Antlitz der Wissenschaft verwandelt sich, je mehr Opfergaben von Forschern neuen Stils auf ihren Altar abgelegt werden, zunehmend in eine starre Fratze. Bereits längst über Bord gegangen ist das offiziell noch so gefeierte, rührend optimistische Wissenschaftsschema des "kritischen Rationalismus", wie es einst von Karl Popper verfochten wurde. Daß eine Sache, ein Forschungsgegenstand nur so lange Bestand und methodische Berechtigung habe, bis er zur Gänze "falsifiziert" sei, daß ihm also nur eine heuristische Bedeutung zukomme und der eigentliche Erkenntnisgewinn im Falsifizieren bestehe, widerspricht frontal jeglicher Intention von Extremismus- oder etwa auch Antisemitismusforschung. Der Forschungsgegenstand darf nicht falsifiziert, sondern muß im Gegenteil immer wieder bestätigt und mit Notwendigkeit unterfüttert werden.

Doch auch das wirklichkeitsnähere, zu Popper in Opposition stehende Wissenschaftsschema des sogenannten "Paradigmenwechsels" à la Thomas Kuhn oder Imre Lakatos wird für die Forscher neuen Stils immer mehr zum Ärgernis. Keiner von ihnen oder ihren Auftraggebern ist auch nur im mindesten daran interessiert, das vorgegebene Paradigma wie einen Luftballon bis zum Rande des Zerplatzens aufzublasen. Statt dessen wird sorgfältig darauf geachtet, daß gewisse kühne, allzu konsequente Fragestellungen gar nicht erst zum Zuge kommen, mögen sie noch so system-immanent sein. Ein "Forschen" auf Sparflamme ist angesagt.

Bei den Extremismusforschern zum Beispiel darf nicht einmal frei über den Begriff des Extremismus selbst, über seine Geschichte und seine politischen Opportunitäten, diskutiert werden. Was zum "Forschen" übrig bleibt, beschränkt sich auf ödes Aschenputtelzählen, "Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen", auf das Umkleiden von Behördenjargon mit pseudo-wissenschaftlicher Terminologie und auf einige "Erklärungen" im Stile der Popular-Psychologie, wie sie die Briefkastentanten in den Illustrierten und Programmzeitschriften praktizieren.

Pankraz kann sich nicht helfen: Bei den Pfaffen des Mittelalters und bei den Sowjet-Kommissaren ging es niveauvoller zu als heute bei den Forschern neuen Stils. Dafür wird aber heute gelegentlich ein Sektenforscher zum "Sektenbeauftragten" ernannt; einem Insektenforscher traditionellen Stils würde solch eine Ehrung wohl schwerlich zuteil.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen