© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/97  02. Mai 1997

 
 
Tony Judt: Große Illusion Europa
Europa wohin?
Rezension
von Helmut Richter

Der Engländer Tony Judt ist Historiker und lehrt europäische Geschichte an der Universität New York, wenn er nicht gerade in Wien ein Buch schreibt. "Große Illusion Europa" heißt sein neues Werk. Es beschreibt die Chancen einer Europäischen Union aus dem Blickwinkel eines abgeklärten und nüchternen Kosmopoliten.

Verblüffend für deutsche Ohren ist bereits die Einleitung in der er erklärt, daß ein Buch über Europa heutzutage in erster Linie ein Buch über Deutschland sei. An anderer Stelle amüsiert er sich darüber, daß es einem britischen Europaminister jüngst gelang, in einem in Le Monde erschienenen längeren Artikel "Europa bauen im 21. Jahrhundert", Deutschland kein einziges Mal zu erwähnen! Wir sind es schließlich gewohnt, uns ständig zurückzunehmen, unter Wert einzuordnen und anderen zu versichern, daß unsere "Interessen" nur als globale "Mitverantwortung" à la Genscher zu verstehen sind. "Weltsozialpolitik" eben. Tony Judt teilt diese, dem Stolz Frankreichs und der Weltmachtnostalgie Englands gefällige Sicht nicht und sieht voraus, daß eine latent übermächtige Stellung Deutschlands über kurz oder lang zum Sprengsatz in einem atlantisch orientierten Europa werden wird und dies gerade auch dann, wenn von deutscher Seite ein europäischer Führungsanspruch nicht angemeldet wird. Unter diesen Umständen würde eine Europäische Union an ihrer Handlungsunfähigkeit zugrunde gehen.

Deutlich arbeitet er heraus, daß der Begriff "Europa" – je nach geographischem Blickwinkel – nicht einheitlich verstanden wird. Wer gehört noch dazu und wer nicht? Samuel P. Huntington läßt grüßen! Die Länder östlich der Oder und westlich Rußlands sieht er beispielsweise als territorial zu wenig gefestigt und in ihrem nationalen Selbstfindungsprozeß als zu unfertig an, als daß sie als vollwertige Partner der alten westeuropäischen Nationen anerkannt werden könnten. Nur die beiden flankierenden Großmächte Rußland bzw. Deutschland interessieren sich ernsthaft für diese Gebiete. So erkennt er in ihren Beziehungen zu Deutschland ein zunehmend "parakoloniales Verhältnis", das "einzig wahre ’europäische’ Erbe der Osteuropäer". Dies würde deutsche Sonderinteressen hervorrufen. – Sprengstoff für Europa. Aufschlußreich ist, wie der Autor die Anfänge der europäischen Einigung nach dem Kriege schildert. Weniger europäischer Idealismus denn handfeste nationale Interessen waren damals für die Gründung der "Montanunion" ausschlaggebend. Nachdem die ursprüngliche Strategie Frankreichs, den potentiellen Rivalen Deutschland zu demontieren, von den anderen Alliierten vereitelt worden war, besann man sich auf die möglichst enge Einbindung Deutschlands in europäische Strukturen – die zweitbeste Lösung. So war die Gefahr eines deutschen Sonderweges gebannt und Frankreich hatte für seine Stahlindustrie Zugriff auf die lebenswichtige Ruhrkohle. Die Bundesrepublik hingegen gewann durch ihre Mitgliedschaft in der Montanunion internationale Reputation, ein wichtiges Ziel Adenauers. Westeuropa wurde zu einem Bollwerk gegen das sowjetische Imperium zusammengeschmiedet. An eine spätere Erweiterung europäischer Strukturen auf die Länder hinter dem "Eisernen Vorhang" dachte damals niemand ernsthaft. In diesem Sinne ist die Europäische Union ein Kind des Kalten Krieges. Ihren bisherigen Erfolg verdankt sie in erster Linie den einzigartigen und nicht wiederholbaren wirtschaftlichen Gegebenheiten in der Nachkriegszeit. Und diese ist bekanntlich seit 1989 endgültig vorbei!

In Zukunft gibt es weniger zu gewinnen und zu verteilen – schlechte Voraussetzungen für den Zusammenhalt einer Staatengemeinschaft. Ihre wichtigste Legitimation gegenüber den Bürgern ist damit verloren. Die Menschen werden zunehmend von ihren nationalen Regierungen erwarten, daß sie ihre Interessen in der Union härter vertreten. Die nationale Gemeinschaft wird also im Gefühl der Bürger an Bedeutung steigen, wie übrigens Umfragen in einer Reihe europäischer Staaten schon jetzt aufzeigen. Tony Judt lehnt es ab, den Nationalstaat als eine überholte politische Organisationsform zu bezeichnen. Er sei, ganz im Gegenteil, eine der "modernsten politischen Institutionen". Zu große Einheiten wiesen hingegen meist ein "demokratisches Defizit" auf. Schon die Sitzverhältnisse im Europäischen Parlament scheinen dem Autor recht zu geben: nach den Regeln der repräsentativen Demokratie hätte Deutschland dort etwa 35 Abgeordnete zu wenig (z. Zt. 99) – gegen einen Ausgleich hat sich hauptsächlich Frankreich gesperrt. Tony Judt glaubt, daß "die Zukunft Europas entweder unter dem Diktat Deutschlands oder überhaupt nicht zu realisieren ist". Schlechte Aussichten für die EU. Wäre es da nicht an der Zeit, auch einmal offen über Alternativen zu diskutieren?

Tony Judt: Große Illusion Europa? Herausforderungen und Gefahren einer Idee, Carl Hanser Verlag, München 1996, 159 Seiten, geb., 29,80 Mark


 
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