© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/97  02. Mai 1997

 
 
Abgewürgt: Biedenkopfs zaghafte Wortmeldung
Konsensdiktatur
Meinungsbeitrag
von Christian Questin

Wenn es in der bundesrepublikanischen Systempartei Nr. 1, der CDU, noch so etwas wie eine Restehre gäbe, dann hätte man dort begriffen, daß die am Wochenende bekannt gewordene Kritik des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf an der erneuten Kanzlerkandidatur Helmut Kohls im Prinzip nichts anderes als ein Versuch zur Verteidigung dieser Ehre gewesen ist.

Aber die Reaktionen aus dem Hoflager des seit 1982 herrschenden Phraseurs aus Oggersheim, dessen politischer Dilettantismus nur noch von seiner dreisten Selbstgefälligkeit überboten wird, sind eindeutig: statt eines Ernstnehmens der Biedenkopfschen Kritik, deren Inhalt ansonsten ja die Spatzen von den Dächern pfeifen, nichts als Empörung, Denunziation, hysterisches Gekreische der Hintze, Blüm, Hennig & Co. Ottfried Hennig, noch CDU-Fraktionschef in Kiel, aber schon designierter Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung, nannte Biedenkopfs Einwände gegen eine erneute Kanzlerkandidatur Kohls – vorgetragen am 7. April im CDU-Präsidium und jetzt schriftlich nachgereicht in einem Brief an CDU-Generalsekretär Hintze – "menschlich und politisch unanständig". Menschlich und politisch unanständig ist in diesem Zusammenhang jedoch nur Hennig selber, der sich an einer machtgefälligen kollektiven Verbal-Schlägerei gegen einen einzelnen beteiligt. Blüm, vor kurzem noch selber ein potentieller Handtuchwerfer im Kabinett Kohl und vielfacher Fastnachtsordenträger, charakterisierte den christdemokratischen Rest-Intellektuellen Biedenkopf so: Er sei kein "Querdenker, sondern ein Quertreiber". Womit nun endlich auch Blüm zugegeben hat, daß der Begriff "Querdenker" in der bundesrepublikanischen "Konsensdiktatur" (Hermann Scheer, SPD) nichts anderes als ein semantischer Trick von machtsüchtigen Einheits-Ideologen ist.

Und Hintze, der pastörliche General aus dem Bonner CDU-Hauptquartier, entblödete sich ein weiteres Mal nicht, indem er darauf hinwies, daß "99,99 Prozent" der Parteimitglieder hinter Kohl, wo auch immer, stünden. Zudem sei Kohl schon deshalb der beste Kandidat der Union, weil er auch "der beste Anwalt Deutschlands im europäischen Einigungsprozeß" sei.

In diesem Zusammenhang kommen einem natürlich vor allem all jene politischen Sprachregelungen zu Bewußtsein, die mit dem Untergang der SED-Diktatur ebenfalls untergegangen zu sein schienen. Daß ein Mann wie Kohl gerade dabei ist, Deutschland seiner wahnhaft betriebenen Europa-Ideologie zu opfern, weiß zwar inzwischen jeder, der seinen Verstand noch nicht im Kanzleraquarium zu Bonn ertränkt hat. Aber diese Einsicht ausgerechnet von Hintze zu verlangen, dessen Position schuppengenau der eines Zierfischs im Kanzleraquarium entspricht, ist natürlich geradezu essentiell unmöglich.

Dennoch bleibt Hintzes "99,99 Prozent"-Rhetorik im Raum und damit eines der dümmsten wie dreistesten Propagandamodule kommunistischer Diktaturen. Hintze, bekanntlich der Erfinder der läppischen "Rote-Socken"-Kampagne, hat sich vielleicht doch zu nahe auf den Ungeist seiner erklärten Lieblingsgegner eingelassen. Oder brennt ihm, seinem Herren und der claque politique zu Bonn nur der Boden unter den Füßen, den nun ein Mann wie Biedenkopf mit seinem berechtigten Fragen nach der politischen Qualität dieses Kanzlers und den damit verbundenen politischen Zukunftschancen der Union und Deutschlands zusätzlich angefeuert hat? Als der Kanzler im Fernsehen zu der Kritik Biedenkopfs an ihm befragt wurde, sah man – ein weiteres Mal – einen belfernden, wuterfüllten Mann von nebenan, der stammtischnah zwischen "normalen Menschen und Professoren" unterschied und ansonsten dunkel eine parteiinterne Sonderbehandlung des Delinquenten androhte.

Da wurde es – fern aller behaupteten inneren Souveränität, die diesem Kanzler noch nie gegeben war – sichtbar, das eben erkennbar so berühmte wie berüchtigte "System Kohl": Es besteht aus der, für alle gültige, Erkenntnis: "Das Programm bin ich, und der Rest bin ich auch". Verbirgt sich hinter solch einem "Programm" ein politischer Charakter großen moralischen Formats und weiser Handlungsfülle, kann man damit durchaus eine Zeit leben. Im Falle Kohl aber ist dahinter inzwischen wirklich nichts anderes mehr wahrzunehmen als der wachsende Größenwahn des in Deutschland fast totalitär herrschenden politischen Mittelmaßes, das mit gespenstischer Zähigkeit dabei ist, die dritte Republik in den Abgrund zu treiben. Die Protagonisten dieser Tendenz sind sich dabei so sicher und unsicher zugleich, daß sie nicht einmal mehr eine einzige Gegenstimme, vernehmlich erhoben, zu ertragen gewillt sind.

Vielleicht weil sie wider dreisteres Wollen in der Tiefe ihrer chimärischen Existenz ahnen, daß die "99,99 Prozent" der Kommunisten wie das Entsatzheer "Wenck" Hitlers im April 1945 nichts anders als Propaganda-Metaphern des Selbstbetrugs waren, die das Ende der Macht nicht verhindern konnten.


 
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