© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/97  02. Mai 1997

 
 
Bankrotterklärung
Kommentar
von Dieter Stein

Was Herzog in Berlin mit beschwörender Stimme vortrug, war ein bedrückender Rechenschaftsbericht eines Politikers, der ungewollt für sich und seine Partei den politischen Offenbarungseid ablegte. Über dem Land liege ein "Gefühl der Lähmung", es gäbe eine "unglaubliche mentale Depression", eine "von Ängsten erfüllte Gesellschaft", man rufe "einfach nach dem Staat", "gefährlicher Verlust an Gemeinsinn" herrsche. Herzog wirft den Bürgern vor, "erschreckend gering" informiert zu sein, den Eliten fehle der Wille, "das als richtig Erkannte auch durchzusetzen".

Herzog forderte Richtiges: Mehr Selbständigkeit, mehr Flexibilität, mehr Solidarität. Er appelliert in rührender Weise an den Gemeinsinn, wie es schon länger aus der Mode gekommen ist. Die Art und Weise, mit der er eine Durchsetzung diverser "Reformprojekte" beschleunigen will, ist realitätsfern. Warum sollten Interessengruppen darauf verzichten, "zu Lasten des Gemeininteresses" zu wirken? Das ist so, als ob jemand bei Monopoly kurz vor Spielende die Regeln aufheben und den Sieger auslosen will. Herzog spielt auch ein wenig auf der nationalen Klaviatur: durch Deutschland müsse "ein Ruck gehen", eine "Vision" müsse her, er versucht, sich "Deutschland im Jahre 2020 vorzustellen" – nur hat Herzog erst vergangenen Herbst anläßlich des Historikertages in Münchens verkündet, daß sich der "Nationalstaat mit seinen dazugehörigen Souveränitätsvorstellungen überlebt" habe. Man kann sich aber nicht zuerst vom Nationalstaat verabschieden, um im Moment der Krise an den nationalen Zusammenhalt und nationale Solidarität zu appellieren.

Wer trägt denn seit 1982 die politische Verantwortung in Deutschland? Die SPD? Die Grünen? Die PDS? Es ist in erster Linie die Union als Regierungspartei, der auch Bundespräsident Roman Herzog angehört. Seine Rede ist eine unfreiwillige und nicht zu Ende geführte Bankrotterklärung der Regierung Kohl (denn Herzog ist ein Mann Kohls), die die Chance, die deutsche Einheit zum Ausgangspunkt für tiefgreifende Einschnitte zu nutzen, verschenkt und wertvolle Zeit verplempert hat. Kohl, Kinkel und Herzog selbst sind die Personifizierung des Kompromisses, der Nicht-Entscheidung, des ewigen "Durchwurstelns".

Die Aufregung über die Rede ist bezeichnend: Da spricht einer ein paar klitzekleine Wahrheiten aus, trifft beim Stochern im Nebel auf einen härteren Gegenstand, und schon sehen die Medien einen Propheten am Werk: "Wann hätte je ein Bundespräsident den Deutschen so ins Gewissen geredet", jubelt beispielsweise Manfred Geist ergeben in der Welt. Tatsächlich war es eine Rede, der ein Rücktritt der Regierung folgen müßte.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen