© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/97  02. Mai 1997

 
 
Hauptstadt: Warum in Deutschland alles etwas langsam vor sich geht
Visitenkarte der Nation
von Dieter Stein

Es ist immer noch etwas Besonderes, wenn sich Bonner Politiker zu Stippvisiten in die Hauptstadt Berlin verirren. Kürzlich erst mußten Ministerialbeamte mit einem Sonderzug an die Spree gelotst werden, um ihnen die Metropole auf Märkischem Sand schmackhaft zu machen. Moselwein ist eben allemal schmackhafter als Berliner Weiße mit Schuß – so hielt sich die Begeisterung in Grenzen.

Deutschland nach der Wiedervereinigung: das ist immer noch ein gestaltloser Koloß. Wirtschaftlich eine Größe, wenn auch die ökonomischen Fundamente morsch geworden sind. Die Hauptstadt eines Landes ist die Visitenkarte der Nation. Die Aufgaben, die sich in Berlin stellen, stellen sich dem ganzen Land. Und das architektonische Gesicht, das sich die Hauptstadt gibt, ist das politische Antlitz seines Landes.

Insofern ist die Geschichte der Hauptstadtplanung Spiegelbild der politischen Lage und "Befindlichkeit" der Deutschen. Nach einer kurzen, atemlosen Phase berauschender Tage und Wochen nach dem 9. November 1989, der die Bonner politische Klasse zum Kurs auf die Einheit Deutschlands verurteilte – trotz starker Kräfte des Widerstandes, begann mit der Diskussion um die Frage der Hauptstadt Berlin eine der peinlichsten Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte. Vor den Augen der Welt entblößte sich die Bonner Republik als kleinkariert, borniert, provinziell und allzeit bereit, von heute auf morgen politische Grundsatzpositionen zur beliebigen Disposition zu stellen.

Das Interesse an der Hauptstadt-Planung ist anhaltend groß. Auf Einladung des Spiegel fanden sich über 2000 Menschen am vergangenen Donnerstag im Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt zu einer Podiumsdiskussion über die "Hauptstadt im Wartestand" ein. Auf dem Podium diskutierten die Umzugsexperten Gregor Gysi (PDS), Edzard Reuter (Ex-Vorstandsvorsitzender von Daimler-Benz), Franziska Eichstädt-Bohlig (Bundestagsabgeordnete, Grüne), Klaus-Rüdiger Landowsky (Fraktionsvorsitzender der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus) und Klaus Töpfer (Bundesbauminister, CDU). Der Kontrast zwischen dem von Karl-Friedrich Schinkel erbauten Schauspielhaus, das als eines der Hauptwerke des Berliner Klassizismus gilt, und dem kleinmütigen Parteiengezänk, das sich unter der Regie von Stefan Aust und Michael Sontheimer entspann, war kaum größer denkbar. Das Schauspielhaus wäre der Platz für ein Gespräch über Visionen deutscher Zukunft, einer Politik, die von Berlin aus gestaltet wird. Harte Worte fand Edzard Reuter, dessen Vater einst Berlins Regierender Bürgermeister war: Die Diskussion um den Hauptstadt-Umzug sei beispielhaft für den Zustand der deutschen Gesellschaft. Reuter sprach wiederholt von den Verkrustungen im politischen System, die wichtige Reformen und Entscheidungen verhinderten. Berlin müßte vielmehr "Flagge zeigen" durch die Art seiner Bauten, doch hierfür fehle nach wie vor ein überzeugendes Konzept.

Der überwiegende Teil der zweistündigen Debatte wurde bestritten durch Beiträge zum Konflikt zwischen einem eher CDU-wählenden Westteil und einem mehr PDS-wählenden Ostteil der Stadt. Es ging also um Lokales. Mit großer Lust spulten Landowsky und Gysi ihr Standard-Repertoire ab. Landowsky hielt der PDS die SED-Vergangenheit vor, Gysi mimte kunstvoll das Opfer von Verleumdungen. Genervt faßte Reuter die Erfahrungen mit dem Parteien-Hickhack zusammen: es gebe "keinen Willen in der Stadt", Zukunftsfragen zu lösen. Berlin habe eine "grandiose Chance", die nicht wahrgenommen werde. Die Stadt müsse attraktiver werden für Künstler und Investoren.

Die grüne Baupolitikerin Eichstädt-Bolig geißelte die Berliner Krankheit, auf Subventionen und Großprojekte aller Art zu spekulieren – "ob Olympia, Transrapid oder Hauptstadt-Umzug" – ein eigenes Konzept zur Sanierung der Stadt gäbe es nicht. Klaus Töpfer trat als charmanter Interpret einer müden Bonner Politik auf, die den Umzug nach Kräften sabotiert. Er versuchte hilflos, Verzögerungen beim Umzug mit den Auflagen der Denkmalschützer zu entschuldigen.

Kein Wort davon, wie die Hauptstadt nun aussehen soll. Ein zusammengewürfeltes Arrangement von kommerziellen Glas-Beton-Bunkern und hie und da lustlos rekonstruierten Traditionsbauten? Was wird aus der historischen Mitte der Stadt, dem Schloßplatz?

Die Debatte blieb, was Deutschland ist: selbstverliebt in seine Gestaltungsunfähigkeit, provinziell, visionslos.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen