© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/97  09. Mai 1997

 
 
Westöstliche Gedanken
von Rainer Zimmermann

Erkennen – West und Ost

Fortschritte unserer wissenschaftlichen Welterkenntnis lassen sich nur gewinnen, wenn es gelingt unsere logozentrischen Vorstellungen näher an die Wirklichkeit heranzuführen. Was so einfach klingt, bedeutet für den westlichen Kulturkreis nichts anderes als die Anstrengung, "unser definierend-logisches Sprachdenken", um es mit Rupert Riedel zu sagen, "an eine komplexe, typologisch organisierte Welt der Verflechtungen und Übergänge" besser anzupassen. Das bedeutet, daß wir dem analog-gestalthaft arbeitenden Erkennen der rechten Hemisphäre unseres Gehirns mehr Mitsprache einzuräumen haben. Die japanischen Erfolge in den Wissenschaften lassen vermuten, daß die Mentalität Ostasiens, sobald sie die analytische Logik des Szientismus verdaut hat, hier ein leichteres Spiel haben wird, und sich möglicherweise für China eine epochale Chance auftut.

Konfuzius und die Kommunisten

Die chinesischen Kommunisten sitzen in einer Zwickmühle. Kein Geringerer als Konfuzius hat sie hineinmanövriert. Denn seine "Religion, die keine Priester aber unzählige Gläubige hat", wie sich Pierre Do-Dinh ausdrückte, ist die Verkörperung des chinesischen Geistes schlechthin. Das Dilemma lautet: Wenn der Kommunismus sich China anpaßt, ist er in Gefahr, von ihm verschluckt zu werden; wenn er es nicht tut, ist er in Gefahr, von ihm verworfen zu werden.

Christen, Kommunisten, Konfuzius

Daß sich Christentum und Konfuzianismus durchaus vereinen ließen, diese Überzeugung gewannen die Jesuiten am Beginn des 17. Jahrhunderts. In den konfuzianischen Schriften, so stellte Matteo Ricci nach gründlichen Studien erleichtert fest, sei kein Satz enthalten, der im unversöhnlichen Widerspruch zur christlichen Lehre stehe. Ein ähnlicher Erkenntnisprozeß könnte sich jetzt in den Köpfen führender Chinesen vollziehen und die Widerspruchslosigkeit zwischen den sozialistischen Idealen und der Ethik des Konfuzius entdecken. So ließe sich – nach den Erschütterungen der nationalen Identität seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts – endlich wieder die revolutionär veränderte Gegenwart mit der Geschichte Chinas versöhnen. Und was könnte eine Staatsführung gegen die Wiederbelebung der fünf konfuzianischen Kardinaltugenden einzuwenden haben: Menschlichkeit, Rechtschaffenheit, anständiges Verhalten, Weisheit und Treue?

Vergeltung und Gerechtigkeit

Es gibt – was schon die Jesuiten am Hofe des "Himmelssohns" mit Genugtuung festgestellt haben – eine Reihe von Berührungspunkten der Lehren des Konfuzius mit denen des Jesus von Nazareth. So die Antwort des chinesischen Weisen auf die Frage seines Schülers Dse Gung, ob es ein Wort gäbe, das für ein ganzes Leben als Richtschnur dienen kann; Konfuzius sagte: "Nächstenliebe. Was du dir selbst nicht wünschest, tue nicht anderen an." Aber sehr bald wird auch der Unterschied deutlich, der die Forderung des Evangeliums von der praktischen Lebensauffassung des Konfuzius unterscheidet. Als dieser nämlich über die Grenzen der Güte ("jen") befragt wurde: "Was ist von dem Wort zu halten »Vergelte Böses mit Gutem«", da stellte er die Gegenfrage: "Womit sollte man dann Gutes vergelten?" und gab den Rat: "Vergelte Böses mit Gerechtigkeit und Gutes mit Gutem."

Christus und Mo Ti

"Wer das Schwert ergreift, wird durch das Schwert umkommen." Wenn Christus das in der Bibel überlieferte Wort wirklich gesprochen hat, gibt er damit etwas von der Weltfremdheit zu erkennen, die viele Überzeugungen der nahöstlich-europäischen Denkungsart kennzeichnet. Wie er, so predigte auch – vierhundert Jahre vor ihm – der chinesische Philosoph Mo Ti die allumfassende Liebe unter den Menschen. Aber der pragmatische Chinese glaubte an ihre Verwirklichung nur, wenn durch eine militärische Aufrüstung aller Staaten sich keiner von ihnen aus einem Angriffskrieg Vorteile erhoffen könnte. Hätte der Weise aus dem Reich der Mitte seine Welterfahrung auf diesem Gebiet in einem Satz zusammenfassen sollen, hätte er schreiben müssen: "Wer das Schwert nicht ergreift, wird durch das Schwert umkommen."

Der französische "Himmelssohn"

Die verspielte China-Mode des 18. Jahrhunderts, deren zahlreiche kunsthandwerkliche Adaptionen wir gern mit dem Ausdruck "Chinoiserien" verspotten, sollte uns nicht über die Tiefe der kulturellen Begegnung hinwegtäuschen, die sich damals zwischen den Gebildeten des Abendlandes und dem Geist der chinesischen Kultur vollzogen hat. Ein Staatsakt Ludwigs XV. kann das deutlich machen. Dieser französische König eröffnete 1756 die Frühjahrsbestellung nach konfuzianischem Ritual. Wie der "Himmelssohn" zog er eigenhändig mit dem Pflug die ersten drei Furchen. Dieser Staatsakt beleuchtet den Einfluß, den der französische Physiokrat François Quesnais – von seinen Anhängern "le Confucius européen" genannt – auf das Bourbonenhaus ausübte. Der König einer damals noch überwiegenden Agrarnation sollte – wie der Kaiser im "Reich der Mitte" – der erste Bauer des Staates sein.

Missionare

Angesichts des desolaten Zustandes der Verhaltensnormen und des Lebensstiles im heutigen Europa muß man die Courage bewundern, mit der christliche Missionare in alle Welt geschickt werden. Es spricht manches dafür, daß wir auf einen Vorschlag zurückkommen, den Leibniz schon in seinem "Novissima Sinica" von 1697 mit der Feststellung gemacht hat, "es sei zu überlegen, ob man nicht konfuzianische Missionare zu Hilfe rufe, um die abendländische Sittenverderbnis einzudämmen."

Gesetze und Riten

Allen Gesetzen zum Trotz, die die legislativen Körperschaften in der Bundesrepublik während der letzten Jahrzehnte erlassen haben, ist das Leben der Bürger nicht unbeschwerter, nicht sicherer, nicht gerechter geworden. Die Kriminalität nimmt anscheinend in dem Maße zu, in dem die Gesetzesflut ansteigt. Die üblichen Bedenken gegen die inflationäre Vermehrung der Gesetze, daß durch sie die Bürokratisierung verstärkt und die Bewegungsfreiheit der Wirtschaft beschränkt werde, sind zwar richtig, berühren aber nicht den Kern des Problems. Man kann geistige oder moralische Veränderungen nicht durch Beschwörungen oder Verordnungen herbeiführen. Man könnte sich Rat holen bei Kung-tse, der vor fast zweieinhalbtausend Jahren schon wußte, daß ein Staat letztendlich nicht durch Gesetze ("fa") sondern durch die Riten ("li") in Ordnung zu halten ist. Es wird viel davon abhängen, ob es uns gelingt, gründlicher darüber nachzudenken und zu neuen Vorstellungen zu gelangen, was man unter Riten – sichtbaren Handlungszeichen einer gemeinschaftlichen Gesinnung – in einem Staat des 20. Jahrhunderts zu verstehen habe. Mit dem Absingen der Nationalhymne durch die deutsche Fußballmannschaft ist es nicht getan.

Wirkung der Riten

Aufklärung und Demokratie haben versucht, das vielleicht wichtigste Bindemittel eines Kulturstaates, die Riten, durch Gesetze zu ersetzen. Mit deprimierendem Ergebnis. Ob es der modernen Ethologie gelingen wird, die Weisheit des Konfuzius zu rechtfertigen? Einer ihrer prominentesten Vertreter, Konrad Lorenz, hat die umfassende Wirkung dieser symbolischen Darstellung bestimmter Verhaltensmuster für Gemeinschaften von Lebewesen schon im Tierreich nachgewiesen. Riten bilden ein Verständigungsmittel, dessen Leistung wohl aus seiner vorbegrifflichen Kommunikationskraft stammt; sie erfüllen eine Funktion der "Eindämmung", indem sie das Verhalten des Einzelnen in feste Bahnen lenken; sie regen neue Motivationen an, die ins Sozialverhalten eingreifen; sie festigen das Gemeinschaftsgefüge und das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit; sie wirken als Grundbausteine für eine Symbolisierung der Welt und gewinnen dadurch Erkenntniswert. Die Wahrnehmbarkeit der Riten gibt ihnen ihre Überlegenheit über alle Lehren und Ermahnungen, über die Gesetze. Sie sind sozusagen geforderte und gelebte Gesetze, deren "innerer Nachvollzug" sie zu einem "kognitivem Erlebnis" machen. Da der traditionelle Ritus auch die Gegenwart mit der Vergangenheit verbindet, stellt er eine Gemeinsamkeit der Lebenden mit den Ahnen dar und stiftet eine damit in religiöse Bereiche hinabführende Kommunikation mit den Toten.

Chinesisches Genugseinlassen

Auf den merkwürdigen Umstand, daß die Chinesen ihre fundamentalen Entdeckungen und Erfindungen nie zur Ausbildung einer technologischen Industrie benutzt haben, kommt Chagraff zu sprechen. "Wer das grandiose Werk von Joseph Needham über Wissenschaften und Technik im alten China durchblättert, wird einen tiefen Eindruck von der Treffsicherheit davontragen, mit der jenes Volk zwischen Nützlichkeit und Übermaß unterscheiden konnte. Sie scheinen es verstanden zu haben", meint er, "immer zwei Schritte vor der Schranke halt zu machen". Nun dürfte der Gegensatz von Nützlichkeit und Übermaß keine überzeugende Formel sein, es sei denn, man geht von der Annahme aus, daß übermäßiger Nutzen sein Gegenteil hervorbringt, wofür manches sprechen mag. Daß man Raketen zum Beispiel nur zum Vergnügen benutzt, mag eine solche Beschränkung andeuten, denn im Wort Vergnügen hat die deutsche Sprache ein "Genugseinlassen" eingebaut. Es ist also ein fast chinesisches Wort.

Demut und Geduld

Als Tse-Kung fragte, welche Tugenden am höchsten zu schätzen seien, antwortete der Meister: "Demut und Geduld". Kurz darauf fuhr er mit Fang Tsch’i im Wagen. Da fragte ihn dieser, ob nicht die Tapferkeit als eine der höchsten Tugenden zu gelten habe. Kung-Fu sagte: "Man hat noch keine größere Tapferkeit gefunden als die, die sich in Demut und Geduld bewährt."

Dr. Rainer Zimmermann, geboren 1920 in Nordböhmen, ist Kunsthistoriker und Autor des Buches "Expressiver Realismus – Malerei der verschollenen Generation" (2. Auflage, 1994).


 
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