© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/97  09. Mai 1997

 
 
Heuchelei um Türkei
Kommentar
von Lothar Höbelt

Unlängst war im Radio die Rede davon, das Militär sei einem aufmüpfigen Bürgermeister mit einer Panzerkolonne in die Parade gefahren und habe sich gleich darauf auch den zivilen Ministerpräsidenten vorgeladen – und das alles ohne jede wertende Beifügung. Bedeutet diese vornehme Zurückhaltung, daß der ORF endlich begonnen hat, General Pinochet Abbitte zu leisten? Nein, weit gefehlt: Es ging vielmehr um die Türkei, und der also zum Rapport Befohlene hieß Erbakan. Wenn es um Moschee versus Kaserne geht, weiß der fortschrittliche Gutmensch offenbar nicht recht wohin.

Über die Befindlichkeit diverser Journalisten hinaus scheint das ein Symptom einer Misere zu sein, welche die Beziehungen zur Türkei schon seit längerem überschattet. Die Türkei ist seit dem Zerfall der Sowjetunion von der NATO schlecht behandelt worden; dabei hat sie im Golfkrieg ihre Nützlichkeit bewiesen und wird ihre strategische Bedeutung auch weiterhin nicht einbüßen. Gute Beziehungen empfehlen sich also, gleich wer dort regiert. Auf der anderen Seite drängt die Türkei in die EU – und das ist ein Kapitel, in dem endlose Heuchelei einsetzt. In Brüssel und anderswo tut man sich offenbar schwer mit der Geographie: Die Türkei liegt zu 95 Prozent nicht in Europa. Überdies weiß selbst der realitätsblindeste Linksliberale, der irgendwann einmal wiedergewählt werden will, um die Sprengkraft der Niederlassungsfreiheit für 70 Millionen Türken. Was aber tut man: Statt offen "Nein" (oder doch zumindest: "non possumus") zu sagen, wird die Türkei vom einen aufs andere Mal mit immer fadenscheinigeren Argumenten hingehalten. Indem man z. B. so tut, als ob die Frage der EU-Mitgliedschaft vom Kurdenproblem abhängt. (Hier einer Lösung näherzukommen, hat Erbakan mit seiner islamischen – Türken und Kurden gemeinsamen – Grundierung übrigens vermutlich bessere Chancen als seine Vorgänger.)

Daß derlei Unehrlichkeit Ressentiments zur Folge hat, ist verständlich. Wäre es da nicht besser zu sagen: Die Türkei ist nicht Europa. Aber sie ist ein wertvoller Verbündeter und ein wichtiger Partner. Als solcher hat sie Anspruch auf faire Behandlung, unabhängig vom Frömmigkeitsgrad seiner Kabinettsmitglieder und ohne, daß die EU sich dabei anmaßt, die türkische Innenpolitik fernsteuern zu wollen – was ohnehin bloß nach hinten losgeht.


 
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