© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/97  09. Mai 1997

 
 
Spionage: Ausländische Agenten interessieren sich für Wirtschaftsunternehmen
Eine Illusion weniger
von M. Wiesberg und T. Thaler

Es läßt sich inzwischen weder ignorieren noch leugnen: Industriespionage hat in Deutschland Hochkonjunktur. Hermann Lutz, Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), spricht davon, daß sich das Ausspionieren der deutschen Wirtschaft durch Spione aus aller Herren Länder "zu einer großen Bedrohung des Standortes Deutschland" entwickelt habe. Und in einem Bericht des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz heißt es, mit dem weiteren Ausbau Berlins zum politischen Zentrum sowie zur Wirtschafts- und Wissenschaftsmetropole werde sich "die prekäre nachrichtendienstliche Bedrohungslage" in der deutschen Hauptstadt weiter verschärfen.

In Berlin sind vor allem die Geheimdienste Rußlands und die anderer Staaten der ehemaligen Sowjetunion sowie Spione aus islamischen Staaten aktiv. So verfügt nach Angaben des Verfassungsschutzes allein Rußland für die Auslandsaufklärung über vier Nachrichtendienste mit mehr als 100.000 Beschäftigten. Das Interesse ausländischer Agenten konzentriert sich dabei zunehmend auf den Bereich der Wirtschaftsspionage. In Berlin ist der Verfassungsschutz jetzt deshalb dazu übergegangen, gefährdete Firmen zu beraten. "Wir besuchen Unternehmen, die nach unseren Erkenntnissen bedroht sind, und warnen sie", erläutert Eduard Vermander, Chef des Berliner Landesamtes.

Diese Bedrohung beschränkt sich aber keineswegs auf die Staaten des ehemaligen Ostblocks, sondern schließt inzwischen auch die Geheimdienste angeblich "befreundeter" Staaten ein. Jüngstes Beispiel war die Enttarnung eines US-Diplomaten als Wirtschaftsspion, den Bonn in bewährter Manier herunterzuspielen versuchte.

Die Enttarnung des US-Agenten kann nach Lage der Dinge nicht als "Betriebsunfall" im angeblich so partnerschaftlichen deutsch-amerikanischen Verhältnis bewertet werden, entsteht doch der deutschen Wirtschaft durch Spionage westlicher Geheimdienste – insbesondere aber durch die Aktivitäten des CIA – ein ganz erheblicher Schaden.

Aufschlußreich – gerade im Hinblick auf die völlig neu geordneten politischen Rahmenbedingungen nach dem Ende des Kalten Krieges – ist es, wenn zum Beispiel die Welt bei der Kommentierung der US-Geheimdienstaktivitäten feststellt, daß Präsident Clinton selbst "den US-Geheimdiensten ein größeres Engagement bei der Wirtschaftsspionage verordnet" habe. Die Geheimdienste, so das Springer-Blatt, "geben ihre Erkenntnisse direkt an US-Firmen weiter". Man muß sich die Bedeutung dieser Aussage klarmachen: US-Präsident Clinton selber fordert den CIA zur Wirtschaftsspionage auf, der seine Erkenntnisse US-Firmen zur Verfügung stellt. Die USA betreiben also – und diese Schlußfolgerung wird in der Welt bezeichnenderweise nicht mehr gezogen – staatlich sanktionierte Wirtschaftsspionage. Da paßt es ins Bild, daß die US-Amerikaner in Bad Aibling und Gablingen riesige Abhöranlagen unterhalten, mit denen – so der Spiegel – "fast jedes Telefongespräch in Deutschland belauscht werden" kann. Präziser: "Über 1.000 Lauschtechniker und 100 gelernte US-Agenten tummeln sich nach Schätzung der Sicherheitsexperten noch auf deutschem Boden." Fazit der Welt: "Es gibt wahrscheinlich keine deutsche Firma, die international interessante Forschung und Entwicklung betreibt, in der die Amerikaner nicht ihre Augen und Ohren haben."

Um diesen Vorgang einordnen zu können, ist ein Blick in die "Wendeperiode" der Jahre 1989/90 aufschlußreich. Am 19. September hielt CIA-Direktor William Webster vor dem Los Angeles World Affairs Council eine Rede, in der er sinngemäß ausführte, daß die Tendenz von der Ost/West-Militärkonfrontation hin zu einer globalen Betonung wirtschaftlicher Fragen gehe. Webster bezeichnete "Wirtschaftsfragen" als "Schlüsselbereich" der amerikanischen Außenpolitik und der "nationalen Sicherheit". Als Fragen, die die "Sicherheit" der USA direkt beträfen, nannte der CIA-Chef "die Schulden der Dritten Welt, Handelsungleichgewichte und rasante technologische Entwicklungen". Wirtschaftliche Konkurrenten der USA – wie Japan und Deutschland – sind vor dem Hintergrund dieser Aussagen aus Sicht der Amerikaner nicht mehr als Verbündete zu betrachten, sondern –sollten sich wirtschaftliche Konfliktlinien auftun – als Konkurrenten.

Diese Neubestimmung der amerikanischen Sicherheistsdoktrin fand inzwischen auch in einer so staatstragenden Publikation wie Das Parlament ihren Niederschlag. Dort stand zu lesen, daß sich die Europäer, "wenn sie nicht ihre nationalen politischen Systeme von der Globalisierung", die nach "amerikanischem Muster vollzogen" werde, "ganz zerreiben lassen wollen", auf "protektionistische Konflikte einlassen müssen", wie sie sie "in der vergangenen glücklichen Ära der Wohlfahrtsstaaten nie gekannt hatten".

Diese Kommentierung beleuchtet schlaglichtartig den – nach dem Ende des Kalten Krieges – völlig veränderten Charakter der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Man wird deshalb Leo Wielands Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen zustimmen können, in dem er feststellt, "daß der Vorrat an Gemeinsamkeiten" zwischen Deutschland und den USA "im Schwinden" begriffen sei. Bonn hat aus dieser Entwicklung bisher keine Schlußfolgerungen gezogen.


 
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