© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/97  16. Mai 1997

 
 
Kurische Nehrung: Zwei fabelhafte Neuerscheinungen über ein exotisches Naturparadies
Wasser, Wald und Wanderdünen
Rezension
von Kristof Berking

"Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, daß man sie eigentlich ebensogut als Spanien und Italien gesehen haben muß, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll." Dieser vielzitierte Ausspruch Wilhelm von Humboldts schmückt auch den Umschlag des neuesten Bild- und Textbandes über die Kurische Nehrung: "Landschaft zwischen Traum und Wirklichkeit". Der Husum-Verlag, spezialisiert auf Regionalia, hat damit seiner beachtlichen Reihe von Ostpreußen-Büchern – mittlerweile 50 Titel, nur die Sektion Schleswig-Holstein verzeichnet mehr – ein besonders schönes Juwel hinzugefügt.

Die wunderschönen, zwischen Nähe und Ferne, Licht und Schatten vielseitigen Fotos sind von Christian Papendick, der das Buch auch initiiert, zusammengestellt und gestaltet hat. Er wurde 1926 in Könisgberg geboren und kam 1940 in den Sommerferien das erste Mal auf die Nehrung nach Nidden – und war begeistert: "Hier entdeckte ich meine künstlerische Ader und begann zu malen und zu zeichnen. Und noch etwas Wichtiges für mein späteres Leben fand ich damals unbewußt – ich lernte sehen! (…) Zwei weitere Sommer folgten noch – bis dann die große Katastrophe die Menschen aus dem Land vertrieb." Papendick wurde nicht Maler, wie damals beschlossen, sondern Architekt, und es dauerte 48 Jahre bis er die Landschaft, die seinen Sinn für Farben und Formen so sehr geprägt hat, wieder zu Gesicht bekam. Das Buch reifte in drei Sommern, die er den 98 Kilometer langen Streifen zwischen Cranz und Memel durchwanderte, zusammen mit seinem Schwager, dem Kunsthistoriker Albrecht Leuteritz, der die Texte schrieb – "mit einer für ihn neu entdeckten Liebe zu Ostpreußen".

Auch mit seiner Auswahl von teilweise erstmals veröffentlichten Schwarzweiß-Fotos zeigt Papendick Sinn für Ästhetik. Die historischen Bilder decken alle wesentlichen Aspekte dieser Kultur- und Naturlandschaft ab, von in den Vordünen wandernden Elchen über Kurenkähne in gleißender Mittagssonne bis zu den Sommerfrischlern auf der Kurpromenade von Cranz. Auch Reproduktionen besonders schöner Gemälde der Niddener Künstlerkolonie hat man nicht vergessen; sie sind mit überaus sachkundigen Erklärungen versehen. Keine Kritik, nur ein Hinweis: Die farbigen (!) Dias von der Kurischen Nehrung aus den 30er und 40er Jahren, die im Dia-Archiv der Landsmannschaft Ostpreußen lagern – Haffdampfer, Segelfliegerschule in Rossitten und anderes – harren noch einer Veröffentlichung in einem Bildband, ebenso der farbige Ortsplan von Nidden aus den 30er Jahren mit seinen detaillierten Bezeichnungen Haus für Haus.

Professor Leuteritz hat in seinen Texten mit der Sachlichkeit des Wissenschaftlers, der Einfühlsamkeit des Kunstliebhabers und der Flüssigkeit eines Reiseschriftsteller – er leitete zahlreiche kunsthistorische Reisen im skandinavisch-baltischen Raum – ein wirklich umfassendes Porträt, eine kulturhistorische Topographie dieser "wunderbaren Seelenlandschaft" gezeichnet. – Dieses ist der beste Bildband über die Kurische Nehrung.

Der beste Reiseführer über die Kurische Nehrung ist im Laumann-Verlag erschienen, dessen Reisebücher sich aus der heute existierenden Flut von häufig lieblos und flüchtig zusammengestellten Reisebuchserien wohltuend abheben. Auch diesen Verlag kann man gar nicht genug loben für sein nach Osten orientiertes landeskundliches Engagement: Das Programm umfaßt bereits 29 Reiseführer, ansprechend gestaltete, über Gebiete, Städte und Einzelsehenswürdigkeiten jenseits von Oder und Neiße. Der Autor des Bandes über die Kurische Nehrung, Henning Sietz (*1953), der bereits einen ausgezeichneten Königsberg-Führer vorgelegt hat (bei Edition Temmen, 2. Aufl. 1996), ist eigentlich Slawist und hatte mit Ostpreußen nichts zu tun, bis er als Journalist gefragt wurde, ob er nicht über jenen "Kaliningradskaja Oblast" einen Reiseführer machen wolle, da er doch Russisch kann. Ostpreußen nahm ihn gefangen und – wie sollte es anders sein – ließ ihn nicht mehr los. Er arbeitete sich in die Geschichte und Landeskunde dieser östlichsten deutschen Provinz ein, wie es selbst genuinen Ostpreußen-Kennern zur Ehre gereichen würde.

it Akribie hat er nun nach seinem Königsberg-Führer buchstäblich jeden einzelnen Kilometer der Kurischen Nehrung unter die Lupe genommen. So hat er mit Hilfe alter deutscher und neuer russischer und litauischer Karten sowie einer Sammlung von Luftaufnahmen und natürlich aus eigener Anschauung eine Karte für diesen – übrigens auch mit Fotografien gut ausgestatteten – Reiseführer erstellt, deren elf Teilstücke von Cranz bis Memel so detailliert und erschöpfend sind, daß der Wanderer mehr als dieses Buch nicht einzustecken braucht. Und wandern muß man auf der Kurischen Nehrung, das stellt Sietz gleich im Vorwort klar: "Bringen Sie Muße mit, die Nehrung hat ihr eigenes Maß an Zeit." Nach einer Einführung – "Entstehung von Haff und Nehrung, Geschichte, Die Poststraße, Die Wanderdünen und ihr Bezwinger Franz Epha, Fauna, Flora, Das Haff und seine Fischer" – beginnt der eigentliche Wanderführer mit dem russischen Teil der Kurischen Nehrung: Ausgehend vom Abzweig der neuen Zufahrtsstraße am Ortseingang von Cranz, dem Kilometer Null nach neuer russischen Zählung, die sich nicht mit dem Kilometerschema der deutschen Zeit deckt, arbeiten wir uns vor, Kilometer für Kilometer, Seite für Seite, bis zur litauischen Grenze. Auch verschwundene Sehenwürdigkeiten aus deutscher Zeit, wie z.B. die Segelfliegerschule bei den Dünen nördlich von Rossitten, vergißt Sietz nicht zu lokalisieren. Den drei Ortschaften im südlichen, dem wilderen und urwüchsigeren Teil der Nehrung sind sodann eigene, ausführliche Kapitel gewidmet mit Vorschlägen für Spaziergänge und Wanderungen: Sarkau nahe der schmalsten Stelle der Nehrung (350 Meter), Rossitten, die "Oase in der Wüste" mit seiner berühmten, heute noch betriebenen Vogelwarte und Pillkoppen, in seiner verträumten Abgelegenheit wohl dasjenige Nehrungsdorf, das seiner ursprünglichen Eigenart noch am wenigsten entfremdet ist. Nach dem gleichen Schema wird der – sehr viel gepflegtere – litauische Teil der Nehrung beschrieben, erst die Wegstrecke, dann die Orte: Nidden, das "Worpswede des Ostens", Preil, Perwelk, Schwarzort und schließlich Sandkrug und Süderspitze am Memeler Tief. In den abschließenden allgemeinen Reiseinformationen sind auch alle brauchbaren Hotels und Ferienheime aufgelistet, die es fast nur im litauischen Teil gibt, insbesondere in Nidden, das auch geographisch der beste Standort ist für einen wunderbaren Wander- und Strandurlaub in dieser exotischsten Wasser-Wald-und-Dünenlandschaft

Europas, direkt vor unserer Haustür. Mit diesen beiden Büchern im Gepäck ist man optimal ausgerüstet für eine Sommerreise, die für Individualisten eine echte Alternative zum Mittelmeerurlaub ist, denn wie sagte Wilhelm von Humboldt so schön…

Christian Papendick / Albrecht Leuteritz: Die Kurische Nehrung – Landschaft zwischen Traum und Wirklichkeit. HusumVerlag, Husum 1996, 288 Seiten, über 300 farb. und zahlr. schwarzweiße Abb., Leinen, 98,– Mark. Gesamtkatalog anfordern bei: Verlagsgruppe Husum, Postfach 14 80, 25804 Husum.

Henning Sietz: Kurische Nehrung. Laumann-Verlag, Dülmen 1996, 216 Seiten, 26,80 Mark. Gesamtverzeichnis der Laumann Reisführer anfordern bei: Laumann-Verlag, Postfach 14 61, 48235 Dülmen.

Kristof Berking ist Autor von sechs Dokumentarfilmen über Nord-Ostpreußen, u.a. "Ausflug nach Nidden – Ein Sommertag auf der Kurischen Nehrung", VHS-Video, 60 Minuten, Orion-Heimreiter-Video, Kiel 1993.


 
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