© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/97  16. Mai 1997

 
 
Forschungsstelle Ingolstadt: Frühjahrstagung mit breitem Spektrum
Geheime Reichssachen
von Jürgen Mohn

Oberster Grundsatz ist "die Verpflichtung zur Erhellung der jüngeren Geschichte auf Grundlage streng wissenschaftlicher Verarbeitung von Urkunden und Originaldokumenten." Dieser Passus aus der Satzung der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt e.V. (ZFI) steht seit ihrer Gründung 1981 als Leitgedanke über deren Tagungen, zu denen im Halbjahresturnus jeder Interessierte eingeladen ist. Als Referenten konnten bereits Lothar Bossle, Richard Eichler, Günter Kießling, Heinz Magenheimer und Walter Post begrüßt werden, um nur einige Namen anzuführen. Und wenn von der ZFI gesprochen wird, ist meist auch die Rede von Alfred Schickel (64). Der aus dem nordböhmischen Aussig stammende Mitgründer und Leiter der Forschungsstelle wurde auf Vorschlag des bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl 1989 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet für sein Bemühen, "gegen Unkenntnis, Vorurteil und Desinformation anzuarbeiten" und damit zur historischen Wahrheitsfindung beizutragen. Wie bitter nötig solche Mühen sind, verdeutlichte gleich der Eröffnungsvortrag der diesjährigen Frühjahrstagung vorigen Freitag in Ingolstadt. Alfred Schickel erläuterte die wesentlichen Stationen der (sudeten-)deutsch-tschechischen Geschichte 1918–1938. Mit Blick auf Vorgeschichte und Inhalt des Münchner Abkommens 1938 könne man geradezu von einer "geheimen Reichssache" sprechen, da trotz häufiger Bezugnahme in der Öffentlichkeit ja weithin unbekannt sei, daß damals lediglich noch Zeitpunkt und Modus der Abtretung des Sudetenlandes an das Reich festgelegt werden mußte, über die zuvor bereits grundsätzliche Übereinkunft erzielt worden war.

Am folgenden Samstag morgen referierte Ernst Topitsch aus Graz in seinen Gedanken zur Schuldfrage über "die dunkle Seite des Mondes". Gemeint ist der Gebrauch der Moral als Waffe im politischen Kampf – mithin dort, wo Anklage sich nicht mehr wahrhaftig vollzieht und instrumentalisiert wird. Respektable Prinzipien würden unter dem Einfluß von Machtverschiebungen teilweise bis in ihr Gegenteil verkehrt. Mit dem Aufstieg ihrer Verfechter zur Herrschaft wechselten sie von einer machtkritischen zu einer machtlegitimierenden Funktion, wobei dieser schwerwiegende Wandel durch den gleichbleibenden Wortlaut getarnt sei: im Namen der Freiheit werde dann totalitäre Despotie errichtet, im Namen der Humanität Terror ausgeübt. Als höchst fragwürdige Instanzen bezüglich der Schuldfrage sieht Topitsch das Naturrecht, die Menschenrechte und das Völkerrecht. Letzteres kennzeichnete er in Anlehnung an den österreichischen Feldmarschall Conrad von Hötzendorf (1852–1925) als "eine ephemere Rechtsbasis, die dem Schwächeren sicheren Schutz nicht gewährleistet, dem Stärkeren aber, der es nach Belieben modelt, als Maske dient, seine Gewaltakte zu bemänteln".

Den mit viel Beifall bedachten Vorträgen von Schickel und Topitsch folgte jeweils eine Aussprache unter den gut 130 Teilnehmern. Dabei fiel das Bedürfnis auf, nach den gehörten Analysen manche Dinge noch stärker auf den Punkt zu bringen. Wenn beispielsweise in der deutsch-tschechischen Historikerkommission geschichtliche Aufarbeitung durch "politische Wahrheit" ersetzt wird, müsse der Vorgang als das bezeichnet werden, was er ist: eine Katastrophe. Ganz ähnlich bei sehr vielen Zuhörern auch die Beurteilung von Bundespräsident Herzog nach diversen öffentlichen Äußerungen zur Historie. Abgerundet wurde das Themenspektrum durch den Bericht einer Zeitzeugin über ihre Erlebnisse unter kommunistischer Herrschaft in den Jahren 1945 bis 1961. Annerose Matz-Donath erzählte in lebendigem Stil von ihrer Tätigkeit als verantwortliche politische Redakteurin bei der Liberal-Demokratischen Zeitung (LDZ) in Halle gleich nach Kriegsende und den sich steigernden Schikanen und Zensurmaßnahmen der SED. Selbst die vorgesehene Ankündigung von "warmem Wetter aus dem Westen" sei eines Tages als Feindpropaganda interpretiert und aus dem Blatt genommen worden! Erwähnung fand auch die massive Einschüchterung der Bevölkerung vor den formal noch halbwegs "freien Wahlen" in der Sowjetischen Besatzungszone und die Behinderung etwa von LDPD und CDU, deren Wahlkampfstäbe vor der Abstimmung kurzerhand verhaftet wurden.

Seit 1948 mußte die damals 25jährige gebürtige Leipzigerin aufgrund einer Lappalie zwölf Jahre in mitteldeutschen Zuchthäusern – unter anderem in Hoheneck und Sachsenhausen – verbringen. Das grausame und zugleich wenig bekannte Schicksal der dort Inhaftierten brachte Frau Matz-Donath eindringlich in Erinnerung.

Kontakt zur ZFI: Ortsstraße 5, 85110 Dunsdorf. Telefon 0 84 66 / 82 44, Fax: 0 84 66 / 83 73.


 
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