© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/97  16. Mai 1997

 
 
Pfingsten: Einsame Erinnerung an den deutschen Osten
Loch im Gedächtnis
Meinungsbeitrag
von Kristof Berking

Die Pfingsttreffen der Ostpreußen und der Sudetendeutschen geben Anlaß zu einer Frage: Wie ist die Unkenntnis der heutigen Deutschen von den Verlusten, die Deutschland durch den Zweiten Weltkrieg erlitten hat, und wie der Unwille, sich damit zu beschäftigen, zu erklären? Wieso hat die Amputation Deutschlands keinen Phantomschmerz hinterlassen? Wieso wird höchstens einmal der Zerbombung Dresdens gedacht, aber nicht der hundert anderen Katastrophen, etwa der Totalauslöschung einer ganzen Großstadt wie Königsberg oder dem millionenfachen Sterben auf Flucht und Vertreibung und in der Gefangenschaft? Dem Gedenken an das von uns Deutschen begangene millionenfache Unrecht täte die Trauer über die eigenen Verluste doch keinen Abbruch.

Vielleicht verhält es sich so: Der zu beklagende Verlust an Menschen, an Land, an in Jahrhunderten gewachsener Urbanität, an Kostbarkeiten und kultureller Identität hat solch ungeheuerliche, traumatische Ausmaße, daß die Wahrheit einfach zu schrecklich ist, um ihr ins Auge sehen zu können. Das Vergessen, ja teilweise sogar Leugnen der deutschen Opfer wird man im Rückblick vielleicht einmal als unbewußte kollektive Überlebensstrategie verstehen, die eine Regeneration nach der totalen Katastrophe erst möglich machte.

Gegen diese Deutung läßt sich einwenden, daß es bis Ende der 60er Jahre sehr wohl eine Kultur des Gedenkens gegeben hat. Und dennoch: Die Selbstbezichtigung ist vielleicht – jedenfalls für die allermeisten Menschen, die im Hier und Jetzt glücklich leben wollen und ja auch ein Recht dazu haben – die einzige Möglichkeit, dem sonst nicht zu ertragenden irreversiblen Verlust einen Sinn zu geben. Wenn ein Volk so total besiegt wurde, wie wir Deutschen 1945, daß es auf unabsehbare Zeit einer Fremdbestimmung ohnmächtig ausgeliefert ist, dann kann es sich vielleicht nur, wenn es nicht vor Gram eingehen möchte, auf die Seite der Sieger schlagen und deren Deutung (und Verschweigen) des Geschehenen übernehmen. Denn angesichts der physischen Macht des Siegers ist ein Erinnern an das dem Besiegten angetane Unrecht und das Einklagen der Wiedergutmachung auch dieses Unrechts gleichbedeutend mit innerer Emigration, bedeutet Verzicht auf ein gutes Leben, auf Erfolg, auf Lebensglück. Und darf man von den Menschen erwarten, in der Aussicht zu leben, ein Leben lang in der Opposition zu sein und nicht zum Zuge zu kommen? Wäre das nicht kollektiver Selbstmord? Damit soll nicht gesagt sein, daß diejenigen, die auch um die Wunden wissen, die uns Deutschen geschlagen wurden, diese vergessen sollten. Die Schlußfolgerung muß vielmehr lauten, daß man auch auf diejenigen unserer Landsleute, die zu dem geistigen Klima der Selbstverleugnung aktiv beitragen, offen zugehen und sich mit Geduld auf sie einlassen sollte, jedenfalls sofern sie nicht materielle Gründe haben, ihr "Nie wieder Deutschland" zu rufen oder zu denken. Sofern es gebürtige Deutsche sind, die von Deutschland und "den" Deutschen immer nur schlecht denken können, kann es ja kein böser Wille sein, der sie dazu treibt. Da liegt Mitleid näher als Zorn, denn ihrem Deutsch-sein können auch diese Meinungsmacher nicht entfliehen, selbst wenn sie nach Florida oder Kalifornien zögen. Die Distanzierung von der eigenen Herkunft und damit von der eigenen kulturellen Identität verbiegt die Seele. Die Trauer über das Verlorene, der Phantomschmerz, würde zurückkehren, wenn man nicht mehr die negativ-analytische Frage stellte "Was ist deutsch?", sondern unser Deutsch-sein, dem wir ohnehin nicht entrinnen können, bewußt mit allem Guten, Edlen, Schönen füllte, um stolz darauf sein zu können. Diese alternative Haltung ist vermittelbar. Das zeigt auf so simple wie geniale Weise Harald Schmidt mit seiner Show, "der einzigen Sendung, in der noch live deutsches Wasser getrunken wird. Ich sage Ja zu deutschem Wasser". Obwohl er selber, der schon drauf und dran war in Amerika zu bleiben, sich dann aber doch bewußt für den deutschen Wirkungskreis entschied, nicht jene Selbstverleugnungsneurose hat, nimmt er seine prominenten Gäste nicht mit ihrer politischen Korrektheit auf die Schippe, sondern gibt ihnen Zutrauen zu ihren seit dem Schulalter verschütteten normalen, von dem ganzen Schuldkomplex entkrampften Gefühlen und Anschauungen.

Wie ist also der bei uns Deutschen zu beobachtende kollektive Verdrängungsmechanismus psychologisch zu erklären? Auf das Individuum bezogen weiß man ja, daß zum Beispiel vergewaltigte Frauen oder auch KZ-Häftlinge jahrzehntelang nicht über das Erlittene sprechen konnten und können und daß kollektiv Verfolgte und Mißhandelte teilweise sogar die Schuld für ihr grausames Schicksal bei sich selbst suchen, wohl weil die schreiende Ungerechtigkeit anders nicht zu ertragen wäre. Wie ist es nun aber – übertragen auf das uns Deutschen zugefügte Leid und Unrecht – möglich, daß noch in der zweiten und dritten Generation nach derjenigen, die die schrecklichen Verluste unmittelbar miterlebt und erlitten hat, die Verdrängung und Selbstbezichtigung anhält oder gar erst einsetzt? Steht und fällt diese Kollektivneurose, wenn sie denn eine unbewußte Überlebensstrategie ist, mit der äußeren Souveränität und Handlungsfähigkeit des Volkes?


 
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