© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/97  23. Mai 1997

 
 
Elsaß: Karl Goschescheck über kulturelles Selbstbewußtsein und die Rolle der Grünen in Frankreich
Teil der Alternativbewegung
Interview mit Karl Goscheschck
Fragen: Nicolaus Rubeck

Herr Goschescheck, nach den Wahlplakaten und der Programmatik zu urteilen, will das Bürgerforum Elsaß-Lothringen vor allem links eingestellte Wähler ansprechen.

GOSCHESCHECK: Indem unsere Partei nur einen deutschen Namen trägt, brauchen wir die elsässisch-nationale Grundeinstellung nicht allzu sehr hervorzukehren. Den Wählern ist durchaus bewußt, daß wir für Zweisprachigkeit und Autonomie eintreten. Wir greifen daher im Wahlkampf schwerpunktmäßig andere Themen auf: Arbeitslosigkeit, Ökologie, Europa usw. Gesellschaftspolitisch sind wir eindeutig linksliberal eingestellt. Wenn man uns unbedingt etikettieren will, dann bitteschön als "national-linksliberal". Umweltpolitisch sind die Hauptforderungen: Abschaltung der Atomkraftwerke Fessenheim und Kattenhofen (Cattenom), Erklärung des Landes zur "Atomwaffenfreien Zone", Abzug der französischen Atomraketen aus dem Elsaß und aus Lothringen, Stopp des TGV-Projektes und des Rhein-Rhone-Kanals, Steuerbegünstigungen für umweltfreundliche Betriebe, Förderung der Bio-Landwirtschaft, Verbot des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen und ein Nachtflugverbot auf allen Zivilflughäfen.

Stimmen Sie der Auffassung zu, daß das ökologische Bewußtsein im Elsaß weiter verbreitet ist als in anderen Gegenden des französischen Staates?

GOSCHESCHECK: Sicherlich ist das so. Auch in der Bundesrepublik Deutschland ist das Bewußtsein für den Umweltschutz viel ausgeprägter als in Frankreich. Diese historisch bedingte Gemeinsamkeit gehört zu den zahlreich vorhandenen Indizien für die enge Verbundenheit von Elsaß-Lothringen mit Deutschland. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die 70er Jahren hinein hat es bei uns keine autonomistische und regionalistische Bewegung gegeben. Erst dann ist sie – zeitgleich zu den verschiedenen Öko-Strömungen in den Bürgerinitiativen gegen Atomkraft – wiedergeboren worden. Und die ältere Generation in der autonomistischen Elsässischen Volksunion (EVU) oder im Elsaß-Lothringischen Volksbund ist nicht von ungefähr meistens per "du" mit den führenden grünen Politikern. In den Programmen der grünen Parteien im Elsaß und in Lothringen sind regionalistische Themen besser vertreten als etwa bei der gaullistischen Partei RPR oder der liberalen UDF. Die Grünen verlangen wie wir, daß auch Deutsch Amtssprache im Elsaß wird. – Heute geht der Trend dahin, daß beide Bewegungen wieder enger zusammenarbeiten.

Sie sehen sich also als Teil der Alternativbewegung?

GOSCHESCHECK: Ja. In Frankreich sind die Grünen die minderheitenfreundlichste Partei. Wir können uns schließlich nicht mit dem Front National oder der RPR zusammentun, die rein französisch-nationale Parteien sind und die unsere Selbständigkeitsbestrebungen bekämpfen. Genauso kann es in Südtirol keine Einigung zwischen der Union von Eva Klotz und der Alleanza Nazionale geben. Auch mit Teilen der Sozialisten und der elsässischen UDF, die zu großen Teilen aus der Elsässischen Volkspartei der Zwischenkriegszeit hervorgegangen ist, wäre ein Bündnis vorstellbar. Übrigens, wenn Sie schon mit den Begriffen "links" und "rechts" hantieren, so möchte ich hinzufügen, daß die Grünen im Elsaß nicht unbedingt links sind. Und das Bürgerforum steht in einer politischen Tradition, die sich vor allem in einem ausdrückt: Wir sind für Elsaß-Lothringen!

Das Thema kulturelle Identität wird auch von anderen Parteien im Elsaß sehr stark berücksichtigt, so etwa von Alsace d’abord. Nicht zuletzt geben sich die bürgerlichen Parteien zwischen Vogesen und Rhein allesamt sehr regionalistisch. Selbst der Front National wirbt in deutscher Sprache um Wähler. Wo also unterscheidet sich das Bürgerforum noch von den anderen?

GOSCHESCHECK: Dadurch, daß wir die Zweisprachigkeit nicht nur in Wahlkampfzeiten propagieren. Ich glaube nicht, daß Politiker vom RPR, dem Front National und den Sozialisten dieselben Entscheidungen bezüglich zweisprachiger Kindergärten etc. getroffen hätten, wenn es in der Vergangenheit keine echten Autonomisten gegeben hätte. Es gibt heute 150 zweisprachige Schulklassen mit knapp 2.900 Schülern, und es gibt zweisprachige Kindergärten nur deshalb, weil engagierte Elsässer entsprechende Vereine wie "ABCM" gegründet haben, also – genau wie in der Bretagne – die Sache selber in die Hand genommen haben. Das Bürgerforum tritt jetzt dafür ein, daß nicht nur private zweisprachige Kindergärten existieren und in den Schulen die bilingualen Klassen nicht nur als "Testklassen" ausgewiesen werden.

Sie fordern außerdem u. a. das volle Wahlrecht für EU-Bürger auf allen Ebenen.

GOSCHESCHECK: Wir sind konsequent europäisch eingestellt. Unser Ziel ist eine Bundesrepublik Europa, kein "Europa der Regionen", wie es so oft beschworen wird, sondern ein Europa, das so organisiert ist wie die Bundesrepublik Deutschland oder wie die Schweiz.

Sie gehen also von der Überwindung der Nationalstaaten aus?

GOSCHESCHECK: Was heißt überhaupt "Nationalstaat"? – Frankreich ist ein Vielvölkerstaat. Elsaß-Lothringen gehört in nationaler Hinsicht zur deutschen Nation, nicht zur französischen.

Der Begriff "Nation" bedeutet in Frankreich allerdings etwas anderes als in Deutschland. Wie definieren Sie persönlich den Begriff der "deutschen Nation"?

GOSCHESCHECK: Die deutsche Nation besteht aus mehreren Völkern, dem deutschen Volk in der Bundesrepublik, dem elsaß-lothringischen Volk, dem schweizerischen und dem luxemburgischen Volk sowie dem österreichischen Volk. Das heißt aber nicht unbedingt, daß es einen einzigen Staat geben muß.

Nach Herder geht man eigentlich nur von einem einzigen deutschen Volk aus, bestehend aus verschiedenen Stämmen. Wenn Sie die Elsaß-Lothringer als eigenes Volk bezeichnen, wird das zumindest nach der Herderschen Definition sehr schwammig.

GOSCHESCHECK: Die Elsaß-Lothringer sind ein Volk, bestehend aus zwei Stämmen: den alemannischen Elsässern und den fränkischen Lothringern.

Alemannen und Franken gibt es aber auch auf der anderen Seite der Grenze ...

GOSCHESCHECK: ... Richtig, in Belgien, in Luxemburg, in der Schweiz, in Vorarlberg etc. Die gehören zu unserem Stamm, aber nicht zu unserem Volk. Natürlich gibt es grenzüberschreitende Bindungen. Und weil wir Europa schaffen und die Grenzen fallen, werden wir in Zukunft überhaupt nicht mehr getrennt sein und brauchen uns nicht zu vereinigen.

Sie sagen zwar, Frankreich sei ein Vielvölkerstaat, doch das staatliche Gebilde Frankreich ist nun einmal da, und zwar in einer sehr zentralistischen Form. Gehen Sie denn davon aus, daß es sich in absehbarer Zeit – ebenso wie beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland – im Zuge der Europäisierung auflösen könnte?

GOSCHESCHECK: Frankreich würde ich nicht mit demselben Maß messen wie die Bundesrepublik. Der heutige französische Staat soll verschwinden; ob es dann einen Rest quasi als französischen Nationalstaat geben wird, ist Sache der Franzosen selbst. Die Elsässer und die Lothringer haben wenig Ursache, an diesem Staatsgebilde zu hängen. Wäre nicht die "Reichslandzeit" von 1871 bis 1918 gewesen, die diesem Land kulturell gesehen etwas Luft zum Atmen gegeben hat, dann würden hier heute genauso wenige Leute deutsch sprechen wie in der Bretagne noch Bretonen in ihrer eigentlichen Sprache reden.

André Weckmann hatte noch 1986 in seinem Roman "Odile oder das magische Dreieck" geschrieben: "Wir wollen in Symbiose leben mit Frankreich, als gleichberechtigte Partner mit eigenen Charakteristiken, deren wichtigstes die Sprache ist. Gebe uns La France die Freiheit und die Mittel, als eigenständiges Volk in Frankreichs nationalem Verband zu leben, in Frieden und Liebe zueinander." Ihre Thesen klingen demgegenüber eindeutig nach Separatismus. Oder?

GOSCHESCHECK: Für mich kann ich ganz klar sagen: ich bin Separatist. Der Begriff "Autonomismus" ist heute vor allem Teil der Selbstdefinition der Elsässischen Volksunion, deren Ziele durchaus von den unseren zu unterscheiden sind. Persönlich würde ich für Elsaß-Lothringen eine österreichische Lösung gutheißen – in vielerlei Hinsicht.

Zum Beispiel?

GOSCHESCHECK: Die Österreicher sind föderalistisch, umwelt- und minderheitenfreundlich, und sie sind neutral. Ich habe dort zwei Jahre lang gelebt und mich sehr wohl gefühlt. Was die FPÖ betrifft, die in der JUNGEN FREIHEIT so oft gelobt wird, so stehe ich dieser allerdings deutlich kritisch gegenüber.

Die FPÖ setzt sich doch sehr stark für die Südtiroler ein.

GOSCHESCHECK: Aber was die Unterstützung der Minderheiten im eigenen Land – etwa der Slowenen und Kroaten – angeht, braucht man sich nur die Politik Jörg Haiders in Kärnten auszuschauen. Die FPÖ wendet sich für meinen Geschmack zu stark gegen Ausländer und tut nicht genug für das Deutschtum: Daß Haider das deutschnationale Erbe in Österreich für überholt erklärt hat, finde ich jedenfalls nicht richtig.

Sie wissen natürlich, daß Sie sich sowohl in Hinblick auf Österreich als auch auf die Bundesrepublik Deutschland mit Ihrer Argumentation auf sehr dünnes Eis begeben.

GOSCHESCHECK: Natürlich. Was die Bundesrepublik betrifft, so ist diese durch und durch ein Produkt der westlichen Alliierten und hat in der Frage des Elsaß und Lothringens ganz die Pariser Sprachregelungen übernommen. Aber man sollte nicht ganz vergessen, daß die Franzosen auch versucht haben, das Saarland einzugliedern. Wären die Amerikaner nicht gewesen, wäre heute wohl das gesamte linke Rheinufer französisch und wahrscheinlich auch französisiert. Dann verstünden sich die Leute in Köln und Mainz ebenso wie die in Straßburg und Metz als gute französische Patrioten. – Die Franzosen machen das sehr gut.

Die Saarländer haben sich allerdings selbst mit Erfolg zur Wehr gesetzt.

GOSCHESCHECK: Auch die Elsässer und Lothringer haben sich zwischen den Weltkriegen gewehrt. Nur ist dann der Nationalsozialismus dazwischengekommen.

Kommen wir auf die Gegenwart zurück: Welches Wahlergebnis wäre denn am 25. Mai aus Ihrer Sicht das wünschenswerteste für Frankreich?

GOSCHESCHECK: Die heutige bürgerliche Mehrheit wird vom gaullistischen RPR dominiert. Die europäischen Werte, wie sie von Balladur im RPR oder von Léotard in der UDF vertreten werden, sind leider in einer Minderheitenposition. Und das wird in dieser Parteienkonstellation auch weiterhin so bleiben. Es waren die Sozialisten (PS) und die Grünen, die in Frankreich für etwas mehr Dezentralisierung gesorgt haben und in Elsaß-Lothringen auf Gemeindeebene etwas für die Zweisprachigkeit in Bewegung setzten. Ich wünsche mir daher eine Mehrheit von PS und Grünen.

Diese Positionierung scheint zu der Haltung des Bürgerforums in bezug auf die Themen Asyl und Immigration zu passen. Rechte Kritiker werfen Ihnen in diesem Zusammenhang allzu liberale Positionen vor. Glauben Sie nicht, daß die elsässische Identität durch eine starke außereuropäische Einwanderung bedroht ist, zumal die Immigranten wohl kaum die deutsche Sprache sprechen, geschweige denn den elsässischen Dialekt?

GOSCHESCHECK: Die Einwanderer lernen gewöhnlich die Umgangssprache, die in der Öffentlichkeit benutzt wird. Soweit Deutsch ihnen von Nutzen sein kann, werden sie dies auch gebrauchen. Wahrscheinlich geschah die Ansiedlung von Paris aus hier auch mit dem Hintergedanken, die Regionen mit Hilfe der zum großen Teilen aus frankophonen Ländern kommenden Immigranten noch rascher zu französisieren. Doch jetzt sind die Leute da, und man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß es sich ja um Menschen handelt, die sich nicht wie Maschinen hin- und herschieben lassen. Manche von ihnen sind schon hier geboren. Die Frage nach möglicherweise problematischen Folgen der Masseneinwanderung hätte man früher stellen müssen, nämlich bevor die Leute geholt wurden. Allerdings sind wir auch dagegen, daß man jetzt noch weitere neue Immigrationswellen fördert. – Es gibt mittlerweile eine türkische und eine arabische Minderheit in unserem Land. Das müssen wir anerkennen! Wir setzen uns dafür ein, daß beispielsweise die Möglichkeit geschaffen wird, daß die türkische Gemeinschaft ihre eigenen Schulen haben kann. Natürlich müssen sie die freiheitliche und demokratische Grundordnung dieses Landes respektieren. Genauso, wie es keinen katholischen oder protestantischen Staat hier gibt, soll Elsaß-Lothringen natürlich auch kein islamischer Staat werden. Der Glaube ist Privatsache der Leute.

Im Elsaß wurde gerade die Religionsfrage in den letzten Wochen heftig diskutiert. Anlaß ist der geplante Bau einer großen Moschee mit Minarett in Straßburg. Wie stehen Sie dazu?

GOSCHESCHECK: Der Widerstand gegen die geplante Moschee wird von Robert Spieler und dessen Partei Alsace d’abord organisiert. Der Front National und Alsace d’abord versuchen den Elsässern weiszumachen, daß der Verlust ihrer Identität die Schuld der Araber, Türken und anderer Ausländer sei. Ich sage nein. Der Verlust unserer Identität ist erstens die Schuld der französischen Regierung und zweitens unsere eigene Schuld. Wenn wir selber nicht einmal fähig sind, unsere Kultur zu bewahren und unsere eigene Sprache den Kindern weiterzugeben, was kann der Türke an der Ecke dafür? Solange die Zuwanderer unsere elsässisch-lothringische Identität respektieren, sehen wir keinen Grund, ihre türkische oder arabische Identität nicht zu respektieren. Warum sollten also die islamischen Bewohner dieses Landes nicht das Recht auf eine Moschee haben, da ich ja auch das Recht auf eine katholische Kirche habe?

Das Ganze ist wohl weniger eine Frage der Glaubensfreiheit als der kulturellen Tradition ...

GOSCHESCHECK: Sie haben recht: Es ist neu, daß es so viele Moslems in diesem Land gibt. Vor 50 Jahren hat es fast keine gegeben –, deshalb bauen sie sich eben erst heute eine Moschee. Es war auch irgendwann neu, daß es Protestanten gab. Wenn man den Moslems die Religionsfreiheit nicht gewährt, dann werden sie nur militanter. Und das will niemand.

Im Elsaß und in Ostlothringen besteht, anders als im sonstigen französischen Staatsgebiet, keine Trennung von Staat und Kirche. Während der Zeit der Zugehörigkeit zu Deutschland haben die katholische, die reformierte, die lutherische und die jüdische Religionsgemeinschaft Konkordate mit dem Staat geschlossen. Nun soll nach dem Willen der Sozialisten im Elsaß auch eine Art europäisches Musterkonkordat mit den Moslems geschlossen werden.

GOSCHESCHECK: Im Moment hat Frankreich die Verantwortung für Elsaß-Lothringen. Mir ist jedoch unklar, wie der französische Staat ein solches Konkordat schließen und nur auf Elsaß-Lothringen beschränken kann, ohne gleichzeitig zu unterstreichen, daß Elsaß-Lothringen etwas anderes ist als Frankreich. Im Sinne einer Elsaß-Lothringischen Landesverfassung würde ich jedoch nichts dagegen einzuwenden haben, daß der Islam die gleichen Rechte erlangt wie die anderen genannten Religionsgemeinschaften.

Karl Goschescheck: Jahrgang 1967, Studium an der ICES in Straßburg, Diplom-Kaufmann, Controller in der Osteuropa-Filiale eines französischen Konzerns. 1989 bis 1994 Generalsekretär des Elsässisch-Lothringischen Volksbundes und 1994 bis 1995 Mitglied der Elsässischen Volksunion (EVU). 1995 Gründer des Bürgerforums Elsaß-Lothringen. Seit März 1997 Chefredakteur der Zeitschrift "Rot un Wiss"


 
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