© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/97  23. Mai 1997

 
 
Auswandern: Ein junger Westbrandenburger kann seine TV-Träume nicht verwirklichen
Keine Chance für L.A.
von Kai Guleikoff

Rico ist 19 Jahre jung und wohnt bei seinen Eltern in Strausberg. Die Stadt, östlich von Berlin gelegen, hat 27 000 Einwohner und wird von der geografischen Grenze durchzogen, die den Ober- vom Niederbarnim trennt. Auch andere Grenzen gab es schon immer in Strausberg, vor allem die zwischen oben und unten.

Als Rico 1978 geboren wurde waren noch Beinamen populär, wie "Kreis- und Garnisonsstadt" oder "Hauptstadt der Nationalen Volksarmee". Kurz nach 7 Uhr floß an Werktagen ein steingrauer Strom vom S-Bahnhof Strausberg/Nord die Prötzeler Chaussee entlang zum Ministerium für Nationale Verteidigung und 16.30 Uhr dann wieder zurück. Die Uniformträger waren vorwiegend im Besitz höherer Dienstgrade und wehe dem Einfältigen in niedriger Charge, der sich zu den genannten Zeiten gegen den Strom bewegen mußte. Die rechte Hand wuchs für eine Viertelstunde an der Kopfbedeckung an: Grußerweisung! Verwegene entschlossen sich zu einem kühnen Sprung über die Straße hinweg in die angrenzende Obstplantage hinein. Ricos Vater war schon aus diesem simplen Grunde heraus Zivilbeschäftigter der NVA geworden. Mutter war wegen dieses "Rückzuges" längere Zeit ziemlich sauer gewesen. Uniformträger standen im Sozialgefüge des Wohnblocks in der Regel vor den Zivilisten. Dafür ist sie in die SED eingetreten, um die Scharte wieder auszuwetzen. Mit dem Vertrauen der Staatspartei schaffte Mutter dann auch den Aufstieg von der Verkäuferin im "Konsum" zur stellvertretenden Verkaufsstellenleiterin im "Delikat". Doch dieser Qualitätssprung hatte für Rico prägende Folgen.

Bisher hatte Vater immer schnucklige Sachen aus der Militärhandelsorganisation MHO mitgebracht. Nun übertrumpfte Mutter ihn um Längen mit Waren aus der Gestattungsproduktion (Westexporten) oder gar mit Westimporten. Der Fernsehabend wurde jetzt vollkommen: Zum Western und "Ein Fall für zwei" gab es jetzt echten Whisky und für Rico Coca-Cola. Westfernsehen war eigentlich nicht erlaubt, doch in einem Plattenbau blieb kaum etwas verborgen.

Alle wußten voneinander, alle schwiegen miteinander: Geteilte Schuld ist halbe Schuld. Rico wollte nun das Land besuchen, wo es überall Coca-Cola gab und Levis-Jeans. Mutter war ärgerlich über derartige weitreichende Konsequenzen, Vater sprach davon, erst einmal richtig die DDR kennenzulernen und als Rentner habe man dann Zeit, den Rest der Welt in Augenschein zu nehmen. Rico war das zu lange und sein Rumgemaule in der Schule rief die wachsame Lehrerschaft auf den Plan. Ein erprobtes Szenario lief ab: Aussprache mit Rico, Stellungnahme vor der Pioniergruppe, Vorladung der Eltern, Versammlung der Hausgemeinschaft, Aktenvermerke in Ricos Beurteilung und in den Personalunterlagen der Eltern. Riesenkrach zu Hause, keine Coca-Cola mehr und keine Western im Fernsehen. Dafür sprunghaft höherer Whiskyverbrauch bei Vater und Mutter. Wiedergutmachung war angesagt. Rico erhielt solange Kinoverbot aufgebrummt, bis er sich in der Schule beim Wehrbeauftragten als Interessent für eine mögliche, spätere Unteroffizierslaufbahn anmeldete. Mutter übernahm den schon lange unbesetzten Posten der Kultur- und Freizeitverantwortlichen in der Hausgemeinschaft.

Vater tat sich besonders schwer, bis sich der Vorsitzende des Wohngebietsausschusses anbot, ihm die kostenlose Wartung seines privaten Pkw anzuvertrauen. Doch dann erreichten auch Strausberg Ereignisse, die im Begriff "Wende" zusammengefaßt werden. Rico engagierte sich von Anfang an, weil nun jeder auch vor dem Rentnerdasein nach Amerika fahren sollte. Er nahm an allen Demos teil und schwenkte ein kleines, handgemaltes Pappschild mit der Aufschrift: Nieder mit den Privilegien! Keine Frage, diese Monate des gewaltigen Umbruchs beeindruckten Rico mehr, als jede staatlich verordnete Feier. Die Eltern trauten sich anfangs nicht auf die Straße und täuschten Kranksein vor. Doch mit den Wochen trat der Wandel ein.

Immer mehr schlossen sich dem "Trend" an und Rico fiel in der Menge kaum mehr auf. Dann gab es keine DDR mehr, auch keine SED, keine Hausgemeinschaft und keine abzurechnenden Verpflichtungen. Diese "Staatenlosigkeit" wollte Rico gar nicht, lediglich eine "bessere" DDR. Doch Rico war noch immer sehr jung und die Welt schien nun offener denn je zu sein. Bunte Prospekte verkündeten es täglich. Vor den Eltern war er rehabilitiert und galt als Held der Wende. Jetzt galt es zu handeln. Auf Anfrage schickte die Außenstelle der US-Botschaft in Berlin "Allgemeine Hinweise für die Beantragung eines Einwanderungsvisums" (Optional Form 168-German-Rev. 11-91 Dept. of State). Ernüchtert mußte Rico feststellen, daß er keiner "Vorzugskategorie" entsprach und den Nachweis vorlegen müsse, "nicht der öffentlichen Wohlfahrt zur Last zu fallen". Die weiteren Seiten las er erst gar nicht.

Lange dachte Rico nach und entschied sich für einen Neubeginn als Vorzugsbürger und Wohlfahrtsberechtigter – in Strausberg.


 
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