© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/97  23. Mai 1997

 
 
Deserteure als Opfer
Kommentar
von Thomas Brandes

Nach jahrelangem Ringen ist man sich nun parteiübergreifend einig im Deutschen Bundestag: Wehrmachts-Deserteure haben fürderhin als Opfer des NS-Regimes zu gelten und erhalten eine einmalige Entschädigung von 7.500 DM pro Kopf. Schließlich, so die Begründung, haben sich die Fahnenflüchtigen dem von Hitler-Deutschland verschuldeten "Angriffs- und Vernichtungskrieg" entzogen. Tatsächlich gaben nicht einmal zehn Prozent der gestellten Deserteure politische Gründe für ihre Fahnenflucht an. Die meisten Soldaten kehrten der Truppe aus rein persönlichen Gründen den Rücken, viele aber auch deshalb, weil ihnen wegen diverser Strafdelikte ein Kriegsgerichtsverfahren drohte. Diese Motive mögen in jedem Einzelfall menschlich nachvollziehbar sein; für eine Heroisierung der Betroffenen taugen sie allerdings ebensowenig wie für die Bewilligung materieller Zuwendungen durch den Staat.

Zu fragen ist auch, wie diejenigen Deserteure ins Raster passen, die sich erst in den Jahren 1944/45 zur Fahnenflucht entschlossen, zu einem Zeitpunkt also, da Deutschland militärisch längst in die Defensive geraten war? Wo es nur noch darum ging, möglichst viele deutsche Zivilisten aus den Ostgebieten vor der Roten Armee in Sicherheit zu bringen? Wer die Bilder der von den Sowjetsoldaten zu Tausenden geschändeten und ermordeten deutschen Frauen und Kinder vor Augen hat, der kann

Wehrmachtsangehörige, die sich der Verteidigung ihrer Heimat durch Flucht entzogen, nicht als Opfer, sondern eher als Schuldige sehen. Und daß durch die jetzt gefundene Regelung auch Überläufer in den Genuß der staatlichen Sonderzahlung kommen, die durch Geheimnisverrat den Tod einiger Kameraden verschuldet haben, nehmen die politisch Verantwortlichen ebenfalls in Kauf.

Natürlich gab es auch Deserteure, die aus politischen Motiven handelten, deren Fahnenflucht Teil des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus war. Nur diese relativ kleine Gruppe ehemaliger Wehrmachtsangehöriger könnte Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung und eine Opferentschädigung erhalten. Notwendig wäre es also, genau zu differenzieren. Wer eine Einzelfallprüfung verwirft und der Wehrmachtsjustiz stattdessen pauschal unterstellt, unrechtmäßig geurteilt zu haben, mißachtet die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates.

Die wahltaktische Überlegung der Kohl-Regierung, daß die Gruppe der Kriegsteilnehmer mehr als 50 Jahre nach der Kapitulation ohnehin kein großes Stimmenpotential mehr darstellt und deshalb übergangen werden kann, könnte sich alsbald als Fehleinschätzung erweisen.


 
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