© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/97  30. Mai 1997

 
 
Wahlen in Algerien: Islamisten-Terror demonstriert Machtlosigkeit der Zentralgewalt
Kein Ende der Blutspuren
von Johann F. Balvany

Von einer Wahl im herkömmlichen, demokratischen Sinne kann am 5. Juni in Algerien keine Rede sein, weil die Voraussetzungen für eine solche infolge der jüngsten Geschichte des Landes nicht gegeben sind. Der Befreiungs-Euphorie von 1962 nach dem Ende der französischen Kolonialära und der Regierungsübernahme durch die Partei des Staatsgründer-Präsidenten Ahmed Ben Bella folgte bereits drei Jahre später die sowjetisch-tschechoslowakisch gesteuerte Militärdiktatur des Obristen Boumedienne. Houari Boumedienne, eine arabisch-islamisch nuancierte Kreml-Marionette, machte sein Land zum Brückenkopf der Sowjets im westlichen Mittelmeer. Die "Polisario-Front", zu dieser Zeit ein bloßes Anhängsel der Machthaber in Algier, sollte zudem für die UdSSR über die Westsahara den Weg an den Atlantik und in den Raum von Gibraltar bahnen. Dieser Plan ging zu Lasten des westlich ausgerichteten Marokkos, mit dem Algerien wegen seiner Duldung der Polisario-Aktivitäten im Dreiländereck bei Tindouf im Streit liegt.

Bis zum Tod Boumediennes 1979 litten die Algerier unter der ebenso korrupten wie brutalen Herrschaft des Militärischen Staatssicherheitsdienstes ("Sécurité Militaire"). Dessen Leiter, Kashdi Merbah, wurde vor kurzem durch ein islamistisches Killerkommando mitsamt seiner Leibgarde auf offener Straße niedergemacht. Dies, obgleich gerade Merbah es war, der Anfang der 90er Jahre die Legalisierung der "Front Islamique du Salut" (Islamische Heilsfront; FIS) beim damaligen Präsidenten Benjedid durchgesetzt hatte.

Verschieden etikettierte Gruppen Ben Bellas, Ait Ahmeds und anderer versuchten sich seit 1988 neben dem abgewirtschafteten FLN-Regime (Front de Libération Nationale) in Szene zu setzen, doch wurden sie allesamt schon im Jahre 1990 von den Islamisten an die Wand gespielt. Die FIS hatte damals die Gemeinderatswahlen mit 53 Prozent der Stimmen gewonnen. Dabei spielten allerdings auch gewalttätige Einschüchterungen, denen die Staatsgewalt nicht entgegengetreten war, eine nicht geringe Rolle sowie das bis heute gültige Wahlgesetz, das nach zivilisiertem Rechtsempfinden eine Farce darstellt: Das jeweilige Familienoberhaupt kann für alle seine Angehörigen abstimmen, auch wenn diese eine andere politische Meinung vertreten. Fliegende FIS-Kommandos rasten damals landauf, landab, um den Menschen den "Gottesstaat" zu verkünden, verprügelten westlich gekleidete Frauen, schoren kurzhaarige Mädchen kahl, zertrümmerten die Alkoholika in den Restaurants und brandschatzten Häuser, von denen sie behaupteten, sie seien "lasterhaft".

Gegen Ende des Jahres 1991 sollten die Algerier dann erstmals nach dem Ende des sozialistischen Einparteienstaates ein freies Parlament wählen. Als jedoch die Islamisten drauf und dran waren, nach dem Sieg im ersten Wahlgang auch den zweiten für sich zu entscheiden, annullierte das Militär Anfang 1992 die Wahlen, verbot die FIS und ergriff sämtliche Schalthebel der Macht. Der Bürgerkrieg eskalierte, und Mitte des Jahres wurde Staatspräsident Mohamed Boudiaf unter bis heute ungeklärten Umständen ermordet. Die neue Militärführung mit dem im November 1995 durch Wahlen bestätigten Staatschef General Liamine Zéroual an der Spitze war von anderem Kaliber als jene Boumediennes. Sie weckte bescheidene Hoffnungen auf wirtschaftliche Strukturverbesserungen und eine stärkere Öffnung des Landes zur Außenwelt, vermochte jedoch weder die innenpolitische Szene zu entkrampfen noch den Islamistenterror durch massive Gegenaktionen zu brechen. Insbesondere im größeren Umkreis der Hauptstadt Algier, dem fruchtbaren "Mitidja"-Gebiet, bekommt die Regierung Zéroual die Lage überhaupt nicht in den Griff, und dies schon seit bald fünf Jahren. Im diesjährigen "Ramadan", dem Fastenmonat, bzw. in den Wochen unmittelbar vor den jetzigen Wahlen erreichte der Terror ein Ausmaß und eine Brutalität wie nie zuvor. Das Pariser Nachrichtenmagazin Jeune Afrique veröffentlichte jüngst eine kartographische Dokumentation der "Killer-Zonen", bei gleichzeitiger Nennung ihrer jeweiligen Kommandanten, aber auch jener Gegenden, denen es gelungen ist, zur Abschreckung der Mordkommandos eine effiziente Selbstverteidigung auf die Beine zu stellen.

Die sehr heterogenen "Groupes Islamiques Armés" (Bewaffnete Islamische Gruppen; GIA) beherrschen unter dem Kommandanten Antar Zouarbi die Regionen um Hammam Melouane, Medea und Bourkika zuzüglich des Streifens von Mahelma. Der Kommandant Mustafa Kartali befehligt das Gebiet um Maftah, und sein Mitkämpfer Emir Ziane gebietet über die Killerkommandos in Tidjelabine. Eine allen gemeinsame beliebte Methode des Untergrundkampfes sind falsche, auf den ersten Blick offiziell aussehende Straßensperren, bei denen es nicht selten zu Erschießungen tatsächlicher oder vermeintlicher Gegner kommt. Allerdings sperren manchmal auch Gendarmen in der Verkleidung islamistischer Kämpfer Verkehrswege ab, um GIA-Aktivisten habhaft zu werden.

Staatliche Gendarmeriekräfte und Selbstverteidigungseinheiten bewachen – mehr oder weniger wirksam – die Landstriche von Tipasa, Fouka, Chéraga, Douéra, Dar el Beida, Boudouaou, Thenia, Lakhdaria sowie die Enklave von Tablat. Dies heißt aber bei weitem nicht, daß die in diesen Gebieten verlaufenden Straßen vor Terror sicher wären. Vor allem jedoch sind die Grenzen der jeweiligen Einflußgebiete fließend, daß heißt Ortschaften wechseln nicht selten über Nacht den "Besitzer". Gefangene werden bei diesen Kämpfen selten gemacht.

Weitgehend ruhig ist es in den von starken Armeeverbänden kontrollierten Wüstengebieten des Südens, die fast unbewohnt sind, dafür aber die wirtschaftlich lebenswichtigen Produktionsstätten der algerischen Erdöl- und Ergasindustrie beherbergen.

Die Operationen der GIA wurden anfangs in Fünfergruppen unternommen, doch seitdem Antar Zouarbis 1996 das Oberkommando übernommen hat, werden Hundertschaften eingesetzt, also regelrechte Armeeeinheiten. Die GIA agieren blitzschnell und verfügen über ein ausgeklügeltes System sicherer Rückzugswege. Ackerflächen und Plantagen aller Art sowie Flußwege (Queds) werden vermint, und nur die eigenen Leute kennen die "freien Zonen". Diese Taktik bewirkt zudem, daß immer mehr Land-bewohner in die "sichereren" größeren Orte flüchten. Solches geschieht auch dann, wenn GIA-feindliche Familien Racheaktionen zu entgehen versuchen.

Die an sich militärisch haushoch überlegenen Streitkräfte erweisen sich im Vergleich zu den GIA-Kommandos oft als zu unbeweglich, jedoch werden bestimmte Kerneinheiten der Armee in diesem Abnutzungskrieg noch gar nicht eingesetzt. Den Bürgerwehren fehlt trotz offizieller Förderung häufig das nötige Geld, um sich auf dem Schwarzen Markt mit besseren Waffen auszurüsten. Zudem profitieren die GIA und die im Juni 1994 von der FIS als alternative militärische Organisation gegründete AIS ("Islamische Heilsarmee") von der logistischen Unterstützung ihrer Auslandsquartiere in Paris und vor allem in London, wobei es dort allerdings in letzter Zeit zu blutigen internen Auseinandersetzungen gekommen ist. Der Nachschub an jungen Kämpfern aus den Universitäten bzw. aus den Armenvierteln ist bei der anhaltenden sozialen Misere des Landes ungebrochen: Von den 28 Millionen Einwohnern Algeriens sind fast drei Viertel jünger als 25 Jahre, wobei von diesen etwa die Hälfte ohne Arbeit ist.

Wichtigster Mann der GIA ist zur Zeit wohl der Ägypter Mustafa Kemal, der auch den Decknamen "Abu Hamza" führt. Kemal ist Afghanistan-Veteran und kämpfte in Bosnien bei Zenica in der "Islamischen Legion". Diesseits und jenseits des Mittelmeers ordnet er das zerrüttete GIA-Lager, kurbelt die zwischenzeitlich versiegten Waffenlieferungen in den algerischen Untergrund an und versucht, die Geheimdienste Spaniens, der Schweiz und Italiens auszutricksen. Von ihm wird auch die überwiegend in Westeuropa vertriebene Zeitschrift Al Ansar herausgegeben.

Vor den Wahlen vom 5. Juni, die über die Zusammensetzung des Unterhauses entscheiden (das für die Gesetzgebung wichtige Oberhaus soll voraussichtlich im August von den Departements und dem Präsidenten neu bestimmt werden), wollen die Islamisten die Angst in der Bevölkerung nochmals verstärken und die Machtlosigkeit des "westlichen" Präsidialregimes demonstrieren.

Die Liste des Schreckens ist lang: Allein in der ersten Aprilhälfte wurden mindestens 173 Zivilisten getötet. In der Nacht auf den 23. April überfiel eine Gruppe von 30 Männern das Bergdorf Omaria unweit der als Islamisten-Hochburg geltenden Stadt Medea und metzelte 42 Bewohner nieder. Erst am Vortag waren in einem bisher einmaligen Blutrausch in Haouch Boughfi bei Bougara 93 Menschen ermordet worden, darunter 17 Frauen und drei Babys. Die laut Augenzeugenberichten mit Schwertern, Messern und Äxten ausgerüsteten Angreifer schlugen ihren Opfern die Hände oder den Kopf ab.

Erstmals wurde ein Lehrer vor den Augen seiner Schüler umgebracht, als im 100 Kilometer von Algier entfernten Béni Yenni ein mit Gendarmenuniformen getarntes Kommando zur Mittagszeit in das örtliche Gymnasium eindrang und den 50jährigen Djafar Uhiuahne und dessen 22jährigen Leibwächter aus Schnellfeuerwaffen regelrecht durchsiebte. Uhiuahne war als Aktivist der "Vereinigung für Kultur und Demokratie" (RCD) von Said Sadi und als entschiedener Gegner der Islamisten bekannt. Als blendender Redner, Kämpfer gegen die Integristen-Umtriebe und Befürworter einer Autonomie für die Berberregion Kabylei (die klar anti-islamistischen Berber stellen ein Viertel der algerischen Gesamtbevölkerung) erfreute er sich großer Beliebtheit in der Bevölkerung. Kurz zuvor war außerdem eine Bombe im Gymnasium des Bezirks Bab El Oued explodiert, wobei vier Schülerinnen und ein Schüler ums Leben kamen. Insgesamt sind im algerischen Bürgerkrieg bisher schätzungsweise 60.000 Menschen umgekommen. – Am 5. Juni können die Bewohner von geordneten Verhältnissen nur träumen, wählen können sie sie nicht.


 
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