© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/97  30. Mai 1997

 
 
Eine Kulturschau der früheren DDR in Berlin
Identitätssuche mit Pointe
von Thorsten Hinz

Ein "Ostdeutscher Kulturtag" – das historisch ungenaue Motto zielte auf die Kultur in der Ex-DDR – war im Kulturhaus "Peter Edel" in Berlin-Weißensee angesagt. Das DDR-Ambiente ist hier noch unverfälscht; die Besucher trugen mehrheitlich Schwarz, Grau oder andere gedämpfte Farben, um ironisch den Verdacht zu unterlaufen, dem Neckermann-Kulturschock auf dem Leim gegangen zu sein und sich an den grellen Westen assimiliert zu haben. Wurden also DDR-Nostalgie und Sonderbewußtsein jenseits gesamtdeutscher Identität gepflegt, gar die "Mauer in den Köpfen" kultiviert?

Die Frage ist genauso falsch wie dieser vielbenutzte Begriff, der den Eindruck erweckt, die Deutschen in Ost und West hätten nach 1989 überflüssigerweise ein neues, unsichtbares Hindernis zwischen sich aufgerichtet. In Wahrheit mußten sie begreifen, wie wenig sie voneinander wußten, wie sehr sich nach vierzig Jahren der Trennung und unterschiedlicher Sozialisation ihre Lebenserfahrungen und -ansichten voneinander unterschieden und wieviel Konflikte daraus erwachsen.

Jüngstes Beispiel: Der CDU-Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, der bodenständige Berndt Seite, beschwerte sich bitter über einen im Ersten Programm ausgestrahlten Film aus der Fernsehserie "Polizeiruf 110", der die Mecklenburger und Vorpommern als Quartalssäufer darstellte. Seite sah darin eine Beleidigung seiner Landeskinder. Postwendend wurde er von einer westdominierten Presse über die Freiheit von Kunst und Satire belehrt. Die Reaktion des Ministerpräsidenten war natürlich indiskutabel, als Symptom für einen weitverbreiteten Ost-Frust jedoch aufschlußreich. Er speist sich vor allem aus der miserablen wirtschaftlichen Lage – die tatsächlich einen gesteigerten Alkohol-Konsum zur Folge hat – sowie aus dem Gefühl, in der öffentlichen Diskussion stets nur als Objekt, nie als Subjekt vorzukommen. In einem harmlosen "Polizeiruf"-Film hatte der so treue wie unwesentliche Kohl-Satrap Seite ein Ventil für aufgestauten Zorn gefunden, den er im CDU-Präsidium oder im Bundesrat nicht herauszulassen wagt.

Ein "Ostdeutscher Kulturtag" als Gelegenheit der Selbstbesinnung ist also allemal legitim. Am Abend versuchte eine hochkarätig – überwiegend "ostdeutsch" – besetzte Expertenrunde, "ostdeutsches Befinden" im wiedervereinigten Deutschland zu beschreiben. "Erklären wir also, wir müssen ja immer erklären", forderte Detlev Lücke, der Kulturchef der linken Wochenzeitung Freitag, die Podiumsrunde auf; als Moderator ("Ich frage mich, und ich frage vor allem die Runde…") war Lücke allerdings heillos überfordert.

Der Publizist Christoph Dieckmann, Vorzeige-Ossi bei der Zeit, der mit seiner teils vom Theologie-Studium, teils rockmusikalisch inspirierten Sprache den bundesdeutschen Konsensjargon klammheimlich unterläuft, stellte deprimiert fest, für die Zeit-Redaktion hätten die "neuen Länder" den gleichen Stellenwert wie die – in der Ex-DDR gar nicht vorhandenen – Freidemokraten. In den Konferenzen werde das Thema in demselben Tonfall angeschnitten, mit dem man vorschlägt: "Werfen wir doch wieder mal einen Blick auf die FDP." Eine Ursache für die schiefe Wahrnehmung der DDR sei die Unkenntnis darüber, daß dort die gesprochene Sprache gegenüber der geschriebenen die authentischere gewesen sei; in ihren Nischen hätte sich eine "Schweige- und Ironiekultur" herausgebildet, die den Westdeutschen unbekannt und rückwirkend kaum mehr zugänglich sei. Gleichzeitig beanspruche der Westen aber das Deutungsmonopol über die DDR. Die westdeutsche Historie werde dabei als der eigentliche, authentische Strom angesehen, die der DDR nur als ein Nebenrinnsal, das nun zurückgeleitet werden müsse. Die DDR-Erfahrungen seien aber mit westlichen Kategorien nur unzulänglich zu erfassen. Dieckmann: "Es gab ein wahres Leben im falschen."

Der Psychoanalytiker Joachim Maaz, der in dem Buch "Der Gefühlsstau" (1990) früh vor Verdrängung durch nachgeholten Konsumrausch gewarnt und eine "Trauerarbeit" in der DDR verlangt hatte, sieht die Schwierigkeit, daß die "Ostdeutschen" mit ihrer "Andersartigkeit" nichts anfangen können. Es gebe keine Partei in Deutschland, die sie vertrete. Für den "Westen" konstatierte er einen "verdeckten Rassismus"; der "Osten" werde zur Anpassung gezwungen, um sich die eigene kritische Selbstprüfung zu ersparen. Anknüpfend an Alexander Mitscherlich, der gefordert hatte, um Hitler – um den Hitler in sich selber – zu trauern, forderte er, die "Ostdeutschen" sollten um den gehorsamen DDR-Bürger trauern, der in ihnen steckt.

Der Philosoph Wolfgang Bialas, ein Wessi, zog bemerkenswerte Parallelen zur "Vergangenheitsbewältigung" nach 1968. Er selber habe die Existenz seiner Eltern im "Dritten Reich" früher ausschließlich als Teil einer verbrecherischen Struktur angesehen und verworfen. Heute sehe er ein, daß sie auch unter Hitlers Regime über ein Privatleben und über Erlebnisse verfügt hätten, die nicht in der Diktatur aufgegangen wären. Er würde seine Eltern wegen der eigenen Einseitigkeit heute um Verzeihung bitten.

Thomas Brussig, Verfasser des Roman-Bestsellers "Helden wie wir" (1995), monierte die fehlende Bereitschaft der "Ostdeutschen", den eigenen Anteil an der DDR-Misere einzugestehen. Warum sollten die Westler sich von ihnen über die Defizite der westdeutsch geprägten Gesellschaft belehren lassen, fragte er, wenn sie ihre eigene, schuldverstrickte Vergangenheit nicht wahrhaben wollten? Dagegen wurde eingewandt, daß reuevolle Selbstkritik unter den konkreten Bedingungen ein Kotau vor dem ohnehin im Vorteil befindlichen Westen darstellen würde, eine Unterwerfung, wie sie auch in der DDR von ihnen verlangt wurde.

Als ein sechzigjähriger Westdeutscher sich als früherer "Fan" der DDR vorstellte und ihre mögliche Langzeitwirkung mit der der griechischen Polis verglich, konterte Bialas: "Vom Westen her für die DDR zu schwärmen, fand ich immer feige." Ein anderer Redner aus dem Publikum empfahl, die Fremdheit, in der die früheren DDR-Bürger sich wiederfinden, als lehrreichen Vorgriff auf das anzunehmen, was mit der Globalisierung auf ganz Deutschland zukommen könnte. Dazu schienen Meinungsumfragen zu passen, die ergaben, daß die "Ostdeutschen" neuerdings über mehr "Selbstbewußtsein" verfügten als die Westdeutschen. Im übrigen zeigte sich, daß die gemeinsame DDR-Vergangenheit keine homogenen Anschauungen verbürgt. Schon der Altersunterschied führt zu völlig unterschiedlichen Wahrnehmungen – eine ganz normale Angelegenheit also. So saß auf dem Podium strenggenommen ein Klub der einsamen Herzen. Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller wollte sich auf eine Identitätsdiskussion gar nicht erst einlassen und erzählte einen Witz: Der Bürgermeister eines kleinen Dorfes erhält nach der Wende einen Brief des Einwohnermeldeamtes, in dem gefragt wird, ob die beiden unter dem Namen "Paul Müller" gemeldeten Einwohner miteinander identisch seien. Die Frage überfordert ihn völlig und er antwortet: Der eine säuft, der andere klaut, und ich traue diesen Burschen zu, daß sie auch noch identisch sind.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen