© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/97  30. Mai 1997

 
 
Hardy Bouillon: Liberalismus versus Wohlfahrtsstaat
Was heißt Freiheit?
Rezension
von Gerard Radnitzky

Antony de Jasay hat recht, wenn er behauptet, der Liberalismus leide unter der mangelnden Präzision seiner Prinzipien. Hardy Bouillon versucht erfolgreich, diesen Mangel für den Schlüsselbegriff des Liberalismus, den Begriff der individuellen Freiheit, zu beheben.

Er geht aus von der Hypothese, daß Wohlfahrtsstaat und Freiheit des Einzelnen prinzipiell miteinander vereinbar sein könnten. Sie führt zur Suche nach einem Kriterium, mit dessen Hilfe eine eventuelle Unvereinbarkeit der beiden festgestellt werden könnte. Aus diesem Ansatz ergibt sich das Problem, eine Explikation, das heißt Verbesserung des Begriffs "individuelle Freiheit" anzubieten. Es ist verdienstvoll, daß Bouillon zwischen Explikation und Definition unterscheidet, was äußerst wichtig ist, aber in der wissenschaftlichen Literatur fast nie getan wird. Denn eine Verbesserung eines Begriffs vorzuschlagen ist viel mehr, als eine Sprachregelung vorzuschlagen. Der verbesserte und daher auch präzisierte Begriff, sein Explikat, soll als Schlüsselbegriff in der politischen Theorie des Liberalismus fungieren. Eine Kritik an seinem Explikat muß also darin bestehen, zu prüfen, ob es das tatsächlich leistet. Bouillon gibt nicht nur eine klare Definition seines Explikats, sondern er bietet auch eine praktikable Feststellungsmethode an, mit der die Anwendbarkeit des so definierten Begriffs auf eine bestimmte Situation festgestellt werden kann. Sein Explikat ist fruchtbarer und exakter als alle mir bekannten Freiheitsbegriffe, einschließlich des Explikats, das Friedrich August von Hayek vorgeschlagen hat, an dem Bouillon ein zu hohes Maß an konsequentialistischen Kompromissen kritisiert.

Im klassischen Liberalismus wird Freiheit üblicherweise als Abwesenheit von Zwang definiert und Zwang als Eingriff in die Privatsphäre einer Person gedeutet, dem diese nicht freiwillig zustimmt. Bouillon zeigt, daß das zu einer Zirkeldefinition führt, weil "nicht freiwillig" nichts anderes bedeutet als "unter Zwang". Er versucht, durch eine Einfall, den ich fast als genial bezeichnen möchte, aus diesem Zirkel auszubrechen. Zwang, so argumentiert er, sei eine besondere Form von "Angebot" und konstituiere eine Doppelwahlsituation mit "Objektwahl" und "Metawahl", wie es freiwillige Angebote tun. "Metawahl" bedeutet hierbei die Entscheidung, das Angebot – unabhängig von seinem konkreten Inhalt (nämlich dem, worüber in der "Objektwahl" zu befinden ist) – in Betracht zu ziehen oder zu ignorieren. Ein Beispiel kann das illustrieren. Die Entscheidung, nach Zurkenntnisnahme des Steuerbescheids auf denselben zu reagieren oder ihn einfach zu ignorieren, stellt demnach eine Metawahl dar; die Entscheidung darüber, wie auf seinen Inhalt einzugehen sei (etwa durch Zahlung oder Widerspruch) eine Objektwahl. Zwang liegt dann vor, wenn das Ignorieren der Metawahl zu Kosten führt, die bei einem Wahlangebot ohne Zwang nicht entstehen. Das ist einleuchtend, zumindest für denjenigen, der sich ausmalen kann, was das Ignorieren eines Steuerbescheides kostet. Grob zusammengefaßt: Bouillon ersetzt das Definitionsmerkmal der unfreiwilligen Zustimmung, das zu einer Zirkeldefinition führt, durch das Fehlen von Kosten bei einem Ignorieren der angebotenen Metawahl.

Diese originelle Explikation des Begriffs "Freiheit" bannt aber nicht nur die Gefahr einer Zirkeldefinition, sondern ermöglicht auch eine Verbesserung der politischen Theorie des Liberalismus und klärt das Verhältnis der Freiheit zum Wohlfahrtsstaat. Bouillons Analyse zeigt, daß die für den Wohlfahrtsstaat typische Form der "Zwangsbeglückung" via öffentliche Güter eine verdeckte Form von Zwang ist. Allein diese Leistung ist ein Lichtblick in der neueren Literatur des Liberalismus. Bouillon hat einen Erkenntnisfortschritt erreicht. Die heitere Art, mit der er ein trockenes Thema behandelt, macht die Lektüre zu einem Lesevergnügen.

Hardy Bouillon: Freiheit, Liberalismus und Wohlfahrtsstaat. Nomos, Baden-Baden 1997, 185 Seiten, 56 Mark.

Gerard Radnitzky ist emeritierter Professor für Wissenschaftstheorie an der Universität Trier


 
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