© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/97  30. Mai 1997

 
 
Gerechtigkeit für Wehner
Lockerungsübungen
von Karl Heinzen

Am 9. November 1989 wurden Jahrzehnte mühevoller Deutschlandpolitiker mit einem Federstrich zunichte gemacht. Was Adenauer in sicherer Ferne wußte und daher ruhig fordern durfte, was Brandt und Schmidt aus der Gediegenheit der 70er Jahre bespöttelten und Helmut Kohl als Vollender ihrer Politik ins Reich der ungemütlichen Träume verwiesen, wurde an diesem Abend durch ein schüchternes Daherstammeln von Günter Schabowski auf den Weg gebracht: die deutsche Einheit. Der Deutsche Bundestag erhob sich ob dieser Meldung spontan und sang sich die Überraschung mit der Nationalhymne von der Seele. Dieses Singspiel war weniger ein Akt des Exorzismus als eine Kapitulation: Alle Versuche, den Frieden durch die Aufrechterhaltung des alten Status quo zu wahren, wurden an diesem Abend begraben. Seither wahrt man ihn durch die Aufrechterhaltung eines neuen Status quo.

Die Bundesrepublik hat diese schwerste Krise ihrer Geschichte glänzend überstanden. Bog man vor 1989 das vorgebliche Staatsziel der Wiedervereinigung so hin, daß die jeweils aktuelle Politik stets paßte, so legt man sich heute die Interpretation der einstigen Politik so zurecht, daß sie stets in das Faktum der Einheit mündet, ja münden mußte. Das Ergebnis ist bestechend: Wer gegen die Einheit war, behielt recht, auch als diese nicht mehr zu verhindern war. Eine Beschädigung der politischen Kultur unseres Landes wurde dadurch abgewendet, ein Stück Nachkriegszeit in die neue Ära gerettet. Einzig die PDS steht ein wenig schlechter da als einst die SED: Sie wird nicht mehr von gleich zu gleich behandelt. Aber auch dies ist ungleich besser, als für diesen für sie schlimmsten denkbaren Fall zu befürchten war.

Das Wohlgefühl der Repräsentanten unseres Volkes, mit sich selbst im Reinen zu sein, wird nun aber immer wieder durch Wahrheitsfanatiker beeinträchtigt, welche Tatsachen auf den Tisch legen, die zu unterstellen die damaligen Zeitgenossen aus gutem Grund dem Verdikt des Rechtsradikalismus aussetzte. War Herbert Wehner ein Agent – und sei es auch nur ein Einflußagent? Diese Fragestellung verkennt, daß Wehners Loyalität einer Vision und nicht der SPD oder der Bundesrepublik galt. Sie würdigt nicht seine geistige Unabhänigkeit, die DDR nicht durch die Denkschablonen des Kalten Krieges, jedenfalls nicht die Denkschablonen des Westens zu sehen. Und sie mißachtet sein sensibles Gespür dafür, was den Westdeutschen zugemutet werden durfte. Die Union konnte in ihrer eigenen Konspiration mit der SED gar nicht anders, als in seine Fußstapfen zu treten. Schon 1975 klärte Walter Leisler Kiep den SED-Deutschlandpolitiker Häber darüber auf, daß ein Unterschied in den Erklärungen der CDU und ihrer praktischen Politik unvermeidlich sei. Auch insofern steht die neue Bundesrepublik in bewährter Kontinuität zur alten.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen