© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/97  05. Juni 1997

 
 
Joris van Severen: Ikone der flämischen Nationalen
Elitäres Selbstverständnis
von Arman Kilic

Die Geburtsstunde des belgischen Staates markiert die Septemberrevolution 1830: damals sprengten der konfessionelle Gegensatz zwischen dem protestantischen Norden und dem katholischen Süden sowie ein im liberalen Bürgertum erwachtes spezifisch belgisches Nationalbewußtsein das noch junge Königreich der Vereinigten Niederlanden.Durch den sich zuspitzenden Konflikt zwischen frankophonen Wallonen und niederländischsprachigen Flamen wich die anfängliche Unabhängigkeitseuphorie recht schnell spürbarer Ernüchterung. Das gemeinsame Bekenntnis zum Katholizismus vermochte beide Volksgruppen nicht mehr wirksam zu verbinden. Die seit 1830 aktive Flämische Bewegung kämpfte gegen die Dominanz des Französischen im öffentlichen Leben Belgiens. Ihre politischen Forderungen erschöpften sich bis 1914 in dem Ruf nach kultureller Gleichberechtigung, wobei die Einheit Belgiens keineswegs radikal abgelehnt wurde. Mit der jungen flämischen FrontkämpferGeneration des Ersten Weltkrieges trat ein revolutionäres Element in die bis dato eher konservativbürgerliche Bewegung. Einer der umstrittensten Vertreter dieser Generation war Joris van Severen.

Seine französischjesuitische Erziehung und die belgischpatriotische Gesinnung der gutbürgerlichen Familie van Severen schienen ihn kaum zum radikalen flämischen Nationalisten zu prädestinieren. Die bitteren Kriegserfahrungen, die er als Flame in der belgischen Armee machen mußte, sollten ihn politisch entscheidend prägen. Die Dominanz der Wallonen im belgischen Offizierskorps, deren oft herablassendes Verhalten gegenüber den flämischen Soldaten sowie der als "Verheizen" empfundene massive Einsatz überwiegend flämischer Regimenter an der YserFront erzürnte und politisierte viele Flamen.

Unter dem Eindruck dieser Erlebnisse schloß sich van Severen der "Frontbeweging" an und saß als einer der fünf Abgeordneten der daraus hervorgegangenen flämischnationalen "Frontpartij" von 1921 bis 1929 im Parlament. Die nach 1919 verstärkte Kooperation zwischen Belgien und Frankreich, die in der gemeinsamen Besetzung des Rheinlands und des Ruhrgebiets kulminierte, war in den Augen der flämischen Aktivisten ein bedrohliches Zeichen für die nun endgültige "Französierung" Belgiens.

Die Zerschlagung des belgischen Einheitsstaates durch die Sezession Flanderns erschien van Severen als dringendes Gebot der Stunde, so daß er 1927 den "Algemeen Vlaamsch Nationaal Verbond" (AVNV) gründete. Diese Organisation sollte die nationale Einheitspartei eines künftig unabhängigen und ständisch aufgebauten flämischen Volksstaates werden. Damit trat van Severen aber in einen scharfen Gegensatz zu der "Frontpartij", die die weltanschauliche Radikalität des AVNV ablehnte und ihn 1928 aus der Partei ausschloß. Als ihm 1929 auch noch der Einzug ins Parlament aufgrund der Spitzfindigkeiten des belgischen Wahlsystems mißlang, brach er vollends mit dem Parlamentarismus und wandte sich der korporativen Staatsidee zu. Am 6. Oktober 1931 nahm van Severen mit einer neuen Gruppierung am politischen Leben Belgiens teil, dem sogenannten "Verbond van Dietsche Nationaalsolidaristen", kurz: Verdinaso.
Jener verstand sich als weltanschaulich geformte Bewegung, deren Aktivisten ein elitäres Selbstverständnis besaßen. Der Organisation waren Kampfgruppen angegliedert, die sich "DinasoMilitie" nannten und in Straßenschlachten genauso zum Einsatz kamen wie bei Plakataktionen. Pflug, Zahnrad und Schwert, die von einem Kreis umschlossen wurden, stellten das Parteiemblem dar und sollten die alle sozialen Schichten miteinander verbindende dietsche, das heißt großniederländische Volksgemeinschaft symbolisieren. In Gent befand sich das Hauptquartier und in Antwerpen wurden die jährlichen "Landtage" abgehalten. Die Zeitung Hier Dinaso war das zentrale Presseorgan der Bewegung, die ihre Hochburgen in Westflandern hatte. Das Ziel van Severens war die Schaffung Dietslands, das die Niederlande, Belgisch und FranzösischFlandern sowie die niederländischen Kolonien umfassend, ein Reich von über 50 Millionen "Dietschen" bilden sollte. Obwohl van Severen mit dem Verdinaso aus prinzipiellem Antiparlamentarismus an keiner Wahl teilnahm, stellte die Gruppe einen ernstzunehmenden Faktor in der belgischen Politik dar. Der Verdinaso hatte am Vorabend des Zweiten Weltkrieges etwa 15.000 Mitglieder und viele Sympathisanten sowohl in Belgien als auch in den Niederlanden und in Südafrika. Verdinaso war zwar die radikalste staatsfeindliche Gruppe, wurde jedoch nie einer nennenswerten staatlichen Repression unterworfen.

Ab 1934 begann van Severen die weltanschauliche Konzeption des Verdinaso entscheidend zu verändern. Damit trug er der neuen politischen Wetterlage in Belgien Rechnung. Zum einen entschärften mehrere bis 1934 zugunsten des Flämischen erlassene Sprachgesetze den alten Sprachenstreit, zum anderen schwenkte Belgien seit dem Regierungsantritt Leopolds III. von einer eng an Frankreich angelehnten Außenpolitik zu einem strikten Neutralitätskurs. Die Zusammenarbeit mit den Niederlanden wurde intensiviert. Van Severen verabschiedete sich von der "DietslandIdee" und verkündete seinen Anhängern ein neues Ziel, nämlich das "Dietse Rijk". Gemeint war die großbelgischburgundische Vision der wallonischen Rexisten Léon Degrelles, die die Zusammenfassung Belgiens, Luxemburgs, einiger nordostfranzösischer Provinzen sowie den Niederlanden zu einem Großbelgien bzw. Großburgund erstrebten.

Damit erfolgte eine Annäherung zwischen der wallonischen und flämischen radikalen Rechten. Van Severen hatte sich mit dem belgischen Einheitsstaat versöhnt, den er nun nicht mehr zerschlagen, sondern nach Norden und Süden erweitern wollte. Die überzeugten flämischen Separatisten verließen zwar den Verdinaso, ohne jedoch den Verband ernsthaft schwächen zu können. Obwohl van Severen sich ab 1936 auch in Fragen des Staatsaufbaus kompromißbereit gezeigt hatte und bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs deutschen Annäherungsversuchen recht skeptisch gegenüberstand, wurde er nach dem September 1939 Opfer der in Belgien aus Furcht vor einer erneuten deutschen Besetzung ausbrechenden Massenhysterie.

Beim Einmarsch der Wehrmacht forderte van Severen seine Gefolgsleute auf, den wallonischflämischen Gegensatz und alle weltanschaulichen Vorbehalte zurückzustellen, um Belgien gegen die Deutschen zu verteidigen. Diese Haltung wurde allerdings nicht honoriert, da die belgische Regierung alle potentiellen Kollaborateure verhaften ließ. Als solche wurden alle flämischen Aktivisten aus der Zeit des Ersten Weltkrieges sowie die antibelgisch gesinnten Nationalisten Flanderns angesehen. Die radikale wallonische Rechte blieb verschont. Van Severen wurde über die belgischfranzösische Grenze nach Abbéville gebracht und dort mit zwanzig weiteren Gefangenen ohne vorherige Gerichtsverhandlung am 20. Mai 1940 von französischen Soldaten erschossen.


 
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