© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/97  05. Juni 1997

 
 
Zwei-Drittel-Gesellschaft
Kommentar
von Lothar Höbelt

Ein Drittel der Gesellschaft droht zu verarmen, so heißt es. Zwar unter materiellen Umständen, die vielen unserer Vorfahren immer noch relativ komfortabel erschienen wären, aber mit wachsenden Unterschieden zu den restlichen zwei Drittel. Schuld daran ist natürlich die Gesellschaft, sprich: das böse ausbeuterische System, besonders ausbeuterisch dann, wenn es eben nicht ausbeutet.
Nicht dazu gesagt wird, daß es dazu selbstverständlich eine Alternative gab und gibt: Die Ein-Zehntel-Gesellschaft des Ostblocks etwa, oder ähnliche Formen der staatlich reglementierten Günstlings- und Privilegienwirtschaft, der es spielend gelang, den Anteil der Armen auf eine qualifizierte Mehrheit zu bringen. Freilich: Wenn alle – oder doch fast alle – arm waren, merkte man es nicht so leicht.

Das Problem, das hinter dem politisch korrekten Begriff Zwei-Drittel-Gesellschaft steht, hat das politisch inkorrekte Buch "The Bell-Curve" auf den Punkt gebracht, nämlich daß heutzutage Einkommen mehr als je zuvor von Intelligenz abhängt. Die Diskussion hat sich dann zwar fast ausschließlich darum gedreht, ob unter die im statistischen Durchschnitt weniger Intelligenten in den USA jetzt mehr Schwarze fallen. Die Brisanz der Diagnose liegt aber anderswo: Früher konnte Sozialpolitik auf Hilfe zur Selbsthilfe setzen: Die sozialkritischen Romane vergangener Generationen sind voll mit dümmlichen reichen Prassern, während begabten Armen die Universität versperrt blieb. Die Lösung: Chancengleichheit, und die Sache hat sich.

Wenn aber das Modell der Bell-Curve stimmt und die Armen nicht mehr in der Lage oder willens sind, sich selbst zu helfen, sondern gestrickt sind wie Shaws Müllmann Doolittle, der offen von sich sagte, er gehöre zu den "underserving poor", womit er natürlich meinte, daß er verdientermaßen arm sei, dann heißt das natürlich, daß wir unsere Sozialpolitik zu überdenken haben. Inzwischen freilich stehen wir einem Paradoxon gegenüber: Die Statistik lehrt, daß die Wirtschaft immer weniger Posten für ungelernte Arbeitskräfte anbietet. Vor allem aber lehrt die Erfahrung: Wenn es sie gibt, nimmt sie niemand. Weshalb die Firmen dann den Ruf nach Erhöhung der Ausländerquote ertönen lassen – bisher meist mit Erfolg.

Als Lösung bietet sich an: Wer Arbeit sucht und nicht findet, muß weniger wählerisch sein; und wer Arbeiter sucht und nicht findet, muß eben mehr zahlen. Die wirtschaftliche Effizienz spräche wohl sehr für dieses Modell. Doch wie sprach unlängst erst ein Kenner der Szene sinngemäß: Wir sind doch nicht im Ausland, wo "Performance" zählt…


 
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