© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/97 13. Juni 1997 |
||||
Großbritannien: Das erste Fazit von Blairs New-Labour-Regierung fällt positiv aus Idealismus anstelle von Ideologie von Michael Walker Es könnte klischeehaft anmuten, die konservative Niederlage bei den Wahlen im immer noch Vereinigten Königreich am 1. Mai als eine Niederlage historischen Ausmaßes zu beschreiben, aber genau das war sie. Der Erdrutschsieg für Tony Blairs New Model" Labour Party brachte dieser 418 von 659 Sitzen. Dies ist das beste Ergebnis, das Labour in der Geschichte je erzielt hat, sowie das schlechteste für die Tories seit dem Jahr 1832. Eine Ironie der Geschichte ist es, daß die Conservative Party (viele Jahre lang war ihr voller Name Conservative and Unionist Party"), die die nationale Einheit gegen jedwede weitergehende Föderalisierung repräsentiert, außerhalb Englands nicht länger vertreten ist und in England kaum mehr in den großen Städten, während eine Labour Party, die sich der Dezentralisierung verschrieben hat, sich flächendeckend ausbreiten konnte von Lands End in Cornwall bis John OGroats im hohen Norden Schottlands. Die Liberalen, jetzt Liberal Democrats" genannt, scheinen mit ihren nunmehr 46 Mandaten ausgebrochen zu sein aus einem Ghettodasein von rund einem Dutzend Sitzen ihr politisches Schicksal seit 1924. In Ulster haben die irisch gesinnten Republikaner von Sinn Féin Rekordergebnisse erzielt, und in Schottland sind statt bislang drei nun sechs schottische Nationalisten der SNP ins Parlament eingezogen, was angesichts des britischen Mehrheitswahlrechts ein stolzes Resultat ist. Weniger offensichtlich war die Niederlage für die traditionelle Linke: Mar-xistische
Gruppierungen haben dieses Mal sogar für ihre Verhältnisse lächerliche Ergebnisse
erzielt (anders als die weit rechts stehende British National Party und die Referendum
Party, die in manchen Wahlkreisen vierstellige Stimmenzahlen verbuchen konnten). Eine
erstaunliche Welle der Unterstützung für Tony Blair ausgerechnet in mittelständischen
Wohngebieten, den einstigen Domänen der Konservativen, zeugt von dem enormen Vertrauen in
seine Fähigkeit, die freie Marktwirtschaft zu verteidigen bzw. zu fördern. Und bislang
spricht vieles dafür, daß sich die Menschen nicht getäuscht haben: Der neue
Finanzminister Gordon Brown hat versprochen, sich im Hinblick auf den Staatshaushalt
innerhalb der Ausgabengrenzen seines Vorgängers Kenneth Clarke zu bewegen. Blair selbst
bekräftigte am 2. Mai, vor der Tür von Downing Street No. 10 stehend: Ich sage den
Leuten dieses Landes, wir haben kandidiert als New Labour, und wir werden regieren als New
Labour." Die erste Gesetzgebungsankündigung ein altes Versprechen von Labour war, daß Großbritannien die europäische Sozialcharta unterschreiben werde, womit die sechs Jahre währende Weigerung des Landes beendet würde, sich den EU-Beschäftigungsregeln zu unterwerfen. Die Reaktion hierauf auf dem Kontinent sowie die dortige europapolitische Kommentierung des Wahlergebnisses ganz allgemein legen allerdings den Schluß nahe, daß einige Leute die Zeichen der Zeit falsch deuten. Wie schwierig die Antwort auf die Frage nach der neuen Europapolitik der Labour Party ausfallen muß, zeigt bereits die Besetzung von zwei Schlüsselministerien: Der Schotte Gordon Brown, möglicherweise das EU-freundlichste Mitglied der Regierung nach Tony Blair selbst, ist Finanzminister geworden, nicht Außenminister. Ausgerechnet dieses Ministerium wurde dem einzigen Mann im Kabinett übereignet, den eine tiefe Skepsis gegenüber Brüssel kennzeichnet: Robin Cook. Cook, auch er ein Schotte, glaubt an die Macht persönlicher Diplomatie und an den Pragmatismus in Staatsgeschäften, und er ist ein Mann, der spricht und handelt, als sei er niemals in Eile. Die ersten sechs Monate sind die Flitterwochen aller Regierungen, und diese Regierung genießt ihre Flitterwochen in einer beispiellosen Atmosphäre öffentlichen Wohlwollens. So erstaunlich dies auch für eine moderne Partei ist, so zeigt Labour doch alle Anzeichen dafür, daß sie ihre Wahlversprechen umzusetzen gedenkt. Ganz im Gegensatz zum englischen Wir-wursteln-uns-durch-Prinzip" beabsichtigt Tony Blairs Regierung, baldmöglich sichtbare Ergebnisse ihrer Politik vorweisen zu können. Die Liste der konkreten Vorhaben ist lang: Das House of Lords wird verschwinden; die Schotten und möglicherweise auch die Waliser werden ihre eigenen Parlamente bekommen (sofern sie diesem Schritt in einem Referendum zustimmen); es wird eine Null-Toleranz für jugendliche Kriminelle geben, mit der Möglichkeit von Ausgehverboten für junge Leute und einer Gesetzgebung mit dem Ziel, die Eltern verantwortlich zu machen für das kriminelle Verhalten ihrer Kinder; Farmer werden nicht länger straffrei Hecken vernichten können, sondern müssen dafür die Erlaubnis ihrer Lokalbehörde vorweisen. Neue Maßnahmen werden ergriffen, um Verkehrsstaus zu beseitigen und in den großen Städten möglichst viele Bürger von der Benutzung ihrer Autos abzuhalten; der Privatbesitz von Handfeuerwaffen soll verboten und die Herstellung von Landminen gestoppt werden; das Sponsoring von Sportveranstaltungen durch Zigarettenfirmen soll der Vergangenheit angehören; Schulen unterhalb eines bestimmten Standards werden geschlossen; Parforcejagden werden verboten; Privathaushalte müssen Steuern auf Lotteriegewinne zahlen, und die Manager von Camelot, jener Firma, die die Staatliche Lotterie betreibt, sind gewarnt worden, daß 80prozentige Lohnsteigerungen für das Management nicht tolerierbar seien. Ferner hat die Labour-Regierung der Bank von England erlaubt, Zinsen selbst
festzusetzen, und der neue Gesundheitsminister Frank Field plant eine fundamentale
Überprüfung des Gesundheitssystems gemäß der Warnung Blairs: Wir haben die
Grenzen der öffentlichen Bereitschaft erreicht, ein nicht-reformiertes Wohlfahrtssystem
durch höhere Steuern und Mehrausgaben zu finanzieren." Nicht schlecht für
gerade mal sechs Wochen an der Regierung! Die vorgeschlagene Machterweiterung für die Bank von England sowie die Ernennung des Vorsitzenden von British Petroleum, des begeisterten EU-Anhängers Sir David Simon, zum Europaminister, läßt vermuten, daß der neue Premierminister sich mehr der Sache der europäischen Einheit verschrieben hat, als viele bisher wahrnehmen einschließlich der Union-Jack-schwenkenden Massen von Labour-Anhängern vor No. 10 Downing Street am 2. Mai. Aber auch wenn das der Fall ist, so ist das Europa New Labours definitiv nicht das von Kohl oder Delors angestrebte Europa, also keine Supermacht und noch weniger eine Festung Europa", statt dessen ein Europa des freien Handels, das sich seiner Vielgestaltigkeit freut und ein moralisches Beispiel" (Cook) für die Welt bietet. Robin Cook ist sich sehr wohl klar über die Macht, die ein kooperatives Großbritannien in der EU haben wird, indem es zwischen den bisherigen Protagonisten Deutschland und Frankreich vermittelt. Tony Blair erwartet sicherlich kein sanfter Ritt durch die politischen Landschaften Europas: Wenn seine Flitterwochen erst einmal vorbei sind, werden führende Politiker auf dem Kontinent sehen, daß sein im Überfluß vorhandener Idealismus und das gleichzeitige Fehlen von Ideologie das genaue Gegenteil der Signale sind, die Brüssel und Bonn in den letzten Jahren auszusenden pflegten. Ein schlechter zusammenpassendes Gespann als Kohl und Blair kann man sich kaum vorstellen. Tatsächlich klingt Blairs Credo, daß die Politiker in Europa aufs Volk hören" sollten eine seiner vielen Wendungen, die an Lady Thatcher erinnern , wie eine Warnung an die Adresse Kohls und Herzogs. Ein anderes politisches Minenfeld ist Labours Interesse an der Dezentralisierung. Sie könnte sich leicht in ein Fiasko verwandeln. Für die konsequent nationalistische SNP bedeutet Dezentralisierung letztendlich ja nichts anderes, als den Fuß in der Tür zu haben auf dem Weg zur vollen Unabhängigkeit. Wie weit diese Türe bereits geöffnet ist, wird die Beantwortung folgender Fragen zeigen: Mit wieviel Geld wird das neue schottische Parlament ausgestattet, und wer wird darin sitzen? Wie werden die genauen Grenzen seiner Macht festgesetzt? Ein solches Parlament, dominiert von Labour und SNP, dürfte sich kaum damit zufrieden geben, nur eine Quasselbude zu sein. Auch die Möglichkeit einer englischen Reaktion rund um eine weit rechts stehende New
Con--servative Party kann nicht ausgeschlossen werden. Viele fragen sich, warum es, falls
es ein schottisches und ein walisisches Parlament gibt, nicht auch ein englisches geben
sollte. |