© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/97  13. Juni 1997

 
 
Placebo-Politik
Kommentar
von Thorsten Thaler

Jeder diskreditiert sich selbst, so gut er kann. Wahre Meister darin sind die Mitglieder von Scientology mit ihren geschichtslosen Vergleichen mit den Judenverfolgungen im Dritten Reich (siehe unser Bild auf der Titelseite). Gleichwohl ist der staatliche Umgang mit dieser Organisation dazu geeignet, sich eine literarische Fiktion ins Gedächtnis zu rufen:
„Man konnte natürlich nie wissen, ob man im Augenblick gerade beobachtet wurde oder nicht. Wie oft oder nach welchem System sich die Gedankenpolizei in jede Privatleitung einschaltete, darüber ließ sich bloß spekulieren. Es war sogar denkbar, daß sie ständig alle beobachtet. Sie konnte sich jedenfalls jederzeit in jede Leitung einschalten. Man mußte folglich in der Annahme leben – und tat dies auch aus Gewohnheit, die einem zum Instinkt wurde –, daß jedes Geräusch, das man verursacht, gehört und, außer bei Dunkelheit, jede Bewegung beäugt wurde."
Nein, natürlich leben wir nicht 1984 im totalitären Orwellschen Überwachungsstaat Ozeanien. Nur übelwollende Zungen können behaupten, daß im Deutschland des Jahres 1997 Tendenzen erkennbar seien, die einen Vergleich mit der schriftstellerischen Vorstellungswelt zuließen. Doch selbst weniger kritische Geister muß es beunruhigen, wenn die Innenminister von Bund und Ländern den Verfassungsschutz einsetzen, um Scientology öffentlich als „Beobachtungsobjekt" zu brandmarken.

Der Beschluß der Innenministerkonferenz, Scientology auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln bundesweit zu beobachten, ist in mancherlei Hinsicht bedenklich – und zwar unabhängig davon, ob es sich bei Scientology um eine Religionsgemeinschaft oder Psycho-Sekte, ein Wirtschaftsunternehmen oder eine kriminelle Vereinigung handelt. Denn es geht mitnichten um eine Parteinahme für die umstrittene Organisation, geschweige denn darum, deren Machenschaften die Absolution zu erteilen; worum es hierbei tatsächlich geht, ist die in dem Observationsbeschluß zum Ausdruck kommende schamlose Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes zu politischen Zwecken.

In einer Zeit, in der die Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik am Scheideweg zum Staatsnotstand steht, will die politische Klasse an anderer Stelle durch blinden Aktionismus einerseits ihre Handlungsfähigkeit demonstrieren sowie andererseits von den drängenden Problemen Arbeitslosigkeit und Überfremdung ablenken. Diese Form von Placebo-Politik erstarrt mittlerweile in ihren eigenen Ritualen: gestern „rechtsextreme" Parteien, heute Scientology – und morgen schon könnte es den Kleintierzüchterverein in Müden an der Aller erwischen.


 
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