© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/97  20. Juni 1997

 
 
Kasachstan: Die größte Katastrophenzone Zentralasiens
Ökologische Plagen
von Igor Trutanow

Einer intensiven industriellen Umweltschädigung wurde Kasachstan bereits im Zweiten Weltkrieg ausgesetzt, als zahlreiche Rüstungsberiebe aus den westlichen Gebieten der Sowjetunion ins tiefe kasachische Hinterland evakuiert wurden. Die damalige Kasachische Sowjetrepublik wurde zwischen 1941 und 1945 eines der wichtigsten Rüstungsindustriezentren der UdSSR. Auch in der Nachkriegszeit spielte Kasachstan eine besondere Rolle für die Supermacht UdSSR. In der kasachischen Steppe entstanden jene gewaltigen Objekte, ohne die das Sowjetreich zu einem riesigen Dritte Welt-Land abgesunken wäre. Die wichtigsten davon sind das Atomtestgelände bei Semipalatinsk und das Weltraumzentrum Baikonur.

Das Atomwaffentestgelände Semipalatinsk ("Poligon") wurde neben Tschernobyl zum Symbol des äkologischen Desasters in der UdSSR. Im Gebiet Semipalatinsk begann 1946 die Errichtung eines geheimen Militärobjekts, wo die Sowjets von 1949 bis 1989 ihre nuklearen Waffen gegen den westlichen "Klassenfeind" entwickelten und testeten. Innerhalb dieser 40 Jahre fanden auf dem "Poligon" 470 Explosionen (124 davon in der Atmosphäre) statt. Am 29. August 1949 wurde hier die erste sowjetische Atombombe und am 12. August 1953 die welterste Wasserstoffbombe gezündet. In Kasachstan wurden insgesamt 18 Millionen Hektar für nukleare, biologische und chemische Tests genutzt. Nach Angaben von Experten wurden die Menschen im Umkreis bis zu 200 Kilometern um das Testgelände sowie in der Stadt Semipalatinsk mit einer Dosis von 100 bis 200 rem verstrahlt. Diese Werte sollen die von Tschernobyl übersteigen.

Das Ausmaß der äkologischen Katastrophe im Gebiet Semipalatinsk im Zusammenhang mit den Atomwaffentests wurde von sowjetischen Behärden bis 1989 geheimgehalten. Erst im Februar 1989 verlas der kasachische Dichter und Deputierte des Obersten Sowjets der UdSSR Olshas Sulejmenow im Fernsehen eine Protesterklärung, in der er die Machthaber im Kreml anklagte, vier Jahrzehnte lang einen "Atomkrieg gegen das eigene Volk" geführt zu haben. Auf Sulejmenows Initiative entstand in Kasachstan die erste unabhängige demokratische Bewegung "Nevada-Semipalatinsk", die das Ziel verfolgte, die Testgelände der beiden Supermächte UdSSR und USA zu schließen. Im August 1991 wurde das Atomtestgelände Semipalatinsk endlich geschlossen.

Der "Weltraumbahnhof" Baikonur im kasachischen Gebiet Dscheskasgan ist international bekannt: Am 4. Oktober 1957 startete hier der erste künstliche Erdsatellit "Sputnik", und am 12. April 1961 flog Juri Gagarin als erster Mensch in seinem Raumschiff "Wostok 1" ins Weltall und umkreiste die Erde. Ein ernsthaftes Problem stellen hier die Wracks ausgedienter Raketenträgertanks dar. Diese fallen zusammen mit den Triebwerken der ersten Stufe buchstäblich den Hirten in der Steppe auf den Kopf. Die zahlreichen Tanks enthalten eine längere Zeit lang die Reste des hochgiftigen Raketentreibstoffes.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion befand sich das "Tor ins Weltall" unter der Doppelverwaltung der Verteidigungsministerien der Russischen Fäderation und der Republik Kasachstan. Die Russen, die seit zwei Jahren das Weltraumzentrum Baikonur auf Vertragsbasis von der Republik Kasachstan für 15 Millionen Dollar pro Jahr pachten, kommen immer noch nicht zur Entsorgung des Weltraummülls.

Die Neulanderschließung von 1954 war eine weitere Offensive gegen die Natur: Neben Kasachstan wurden davon Sibirien sowie das Ural- und Wolgagebiet betroffen. Das Neuland-Programm wurde von der Notwendigkeit diktiert, die Getreideproduktion in der Sowjetunion extensiv zu erhähen. Zur Erfüllung des Programms kamen 150.000 Arbeiter aus Rußland, der Ukraine, Weißrußland und Moldawien in die kasachische Steppe.

Bis 1960 wurden in der UdSSR Millionen Hektar Brachland urbar gemacht. Zwei Drittel davon fielen auf Kasachstan. Die übereilte und schlecht durchdachte Urbarmachung der Steppe hatte schlimme äkologische Folgen: Die Humusschicht geht immer noch durch Winderosion verloren, die Vegetation wird zerstärt, die Grundwasservorräte gehen zurück, die Versalzung der Ackerflächen nimmt zu. Der landwirtschaftliche Boden ist mit hoher Konzentration giftiger Chemikalien wie Pestizide und Düngemittel belastet.

In der Nähe des Sees Lop Nor im autonomen Rayon Xingjiang-Uigur in der Volksrepublik China befindet sich eins der fünf nuklearen Testgelände der Erde. Die zwei ersten Tests am Lop Nor fanden am 16. Oktober und am 14. Mai 1964 statt. Im Juni 1967 testeten die Chinesen ihre erste Wasserstoffbombe. Seit Ende 1980 werden am Lop Nor nur unterirdische Versuche durchgeführt. Das Testgelände liegt 700 Kilometer von Almaty entfernt, so daß die Bevälkerung der kasachischen Hauptstadt nach jeder nuklearen Explosion im Nachbarland von gesundheitsschädlicher Emission betroffen ist.

Die jüngsten Atomtests fanden am 8. Juni und am 29. Juli 1996 statt und lästen in Kasachstan und Kirgisien zahlreiche Bürgerprotestaktionen aus. Die kasachische Regierung reagiert auf die nuklearen Experimente der Chinesen mit orientalisch häflichen Noten, da sie an guten Beziehungen mit dem großen Nachbarn interessiert ist. Die kasachischen Behärden versuchen regelmäßig, die Protestaktionen der …ffentlichkeit im Zusammenhang mit dem Lop Nor-Testgelände zu dämpfen.

Der Aralsee, noch eine weitere Katastrophenzone, die infolge menschlicher Tätigkeit entstanden ist, liegt auf kasachischem Boden. Anfang des 20. Jahrhunderts war der Aral im Gebiet Ksyl-Orda der viertgräßte See der Welt. Gegen Ende der 70er Jahre büßte er zwei Drittel seines Wasserspiegels ein, was die Austrocknung von 2,6 Millionen Hektar Boden verursachte. Die Küste des Aral verlagerte sich von den Ortschaften, deren Bewohner seit jeher von der Fischerei gelebt hatten, um etwa 100 Kilometer zurück. Heute liegen Dutzende von verrosteten Schiffen auf dem zu Sand und Salzwüste ausgetrockneten Seeboden um Aralsk. Das Salz wird von häufigen Stürmen verweht und in eine Entfernung bis zu 400 Kilometern getragen. Klimaveränderungen und Bodenversalzung führten zu massenhaften Erkrankungen der Bevälkerung in der Region. Anämie und Tuberkulose treten hier verstärkt auf. In Aralsk gab es vor kurzem sogar Fälle von Pest und Cholera. Die Aral-Katastrophe geht auf die unbedachte Umleitung des Wassers aus den gräßten zentralasiatischen Flüssen Syr-Darja und Amu-Darja zurück, die früher den Aralsee mit Wasser versorgten und vor 30 Jahren auf die Baumwollfelder in Usbekistan umgelenkt wurden. Die Plantagen in Usbekistan umfassen sieben Millionen Hektar und belieferten die Textilindustrie der Sowjetunion mit Baumwolle. Seit vielen Jahren kann der Aralsee aus seinen natürlichen Zuflüssen nicht mehr gespeist werden, was zum ständigen Schwund seines Wasserspiegels führt.

Trotz hoher Umweltbelastung ist das Umweltbewußtsein im neuen unabhängigen Staat nur sehr schwach ausgeprägt. Landesweit organisierte "Grüne" sind nicht existent. Selbst in den Regionen mit hoher Strahlenbelastung wie in Semipalatinsk oder in Dschambul, gibt es keine äffentlich wirksam organisierten Initiativen. Politische Apathie und Schicksalsergebenheit sowie die abstumpfende und zeitraubende tägliche Monotonie des Durchwurstelns sind augenfällige Erklärungen für die allgemeine Passivität.

Die Beseitigung der Umweltschäden in Kasachstan bedarf internationaler Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten. Das äkologisch verwüstete Land braucht wirksame Umweltschutzprogramme. Der durch eine tiefe Wirtschaftskrise bankrotte Staat verschiebt die Läsung dieser Probleme auf eine "bessere Zeit", auf die nächste Generation. Heute kann sich das arme Kasachstan saubere Luft und reines Wasser einfach noch nicht leisten.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen