© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/97  27. Juni 1997

 
 
Berliner Schaubühne: "Die Familie Schroffenstein" von Heinrich von Kleist
Das Leben ist ein heller Wahn
von Thorsten Hinz

Heinrich von Kleist selber nannte das 1802 niedergeschriebene Trauerspiel "Die Familie Schroffenstein", seinen dramatischen Erstling, eine "elende Scharteke". Tatsächlich und trotz der Wachtraumszenen, die seinen späteren Geniewurf "Prinz Friedrich von Homburg" schon erahnen lassen, kippt das Stück mit seiner monströsen Zusammenballung aus Mittelalter, Rosenkriegen, Romeo und Julia, Hexenszenen und grimmen Rittern in unfreiwillige Komik ab. Dennoch sitzt man in Andrea Breths grandioser Inszenierung an der Berliner Schaubühne dreieinhalb Stunden lang atemlos im Parkett.

Die beiden Zweige aus dem Geschlecht der Schroffensteins, die Warwands und die Rossitz’, haben einen Erbvertrag geschlossen, wonach bei Erlöschen des einen Hauses das jeweils andere die Regentschaft mitübernimmt. Jetzt mutmaßt jeder, der andere wolle sein physische Ende herbeiführen. Der Unfalltod des kleinen Peter von Rossitz wird als Mordtat der Warwands gedeutet und gnadenlose Rache geschworen. Auch Ottokar, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, daß seine große Liebe Agnes eine Warwand ist, legt diesen Schwur ab. Das Verhängnis nimmt seinen tödlichen Lauf, und am Ende werden Agnes und Ottokar, die ihre Kleider getauscht haben, von den eigenen Vätern irrtümlich erdolcht.

Schwarz und blau sind die vorherrschenden Farben auf der Bühne und schaffen zusammen mit Widerhalleffekten und Sphärenmusik die Illusion der Entrückung. Die Figuren zelebrieren ein schwindelerregend hohes Deutsch, und schließlich merkt der wie von einem Mahlstrom mitgerissene Zuschauer: der Wahnsinn hat Methode. Seine tragischste – oder soll man sagen: modernste? – Brechung findet er in der Figur des regierenden Grafen Sylvester von Warwand, der weiß, daß alles falsch ist, der Kampf, die Feindschaft, der Handlungszwang, aber keinen rettenden Weg kennt. Somnambul wandelt und redet er dahin, als wolle er Karl Kraus’ Worte: "Kein Wort das traf, man spricht nur aus dem Schlaf", zur Bühnenpräsenz verhelfen. Ein bürgerlich-banaler Stuhl als Requisit zeigt an, die Rittergesten sind längst passé, entleert.

Das Fatum entpuppt sich in Wahrheit als unmöglich gewordene Kommunkation. Die Binnenlogik der unterschiedlichen Wertsysteme: der ritterlichen Tradition, des politischen Kalküls, der changierenden Zeitebenen, von Ehe, Freundschaft und privaten Glücksanspruch, sind miteinander nicht kompatibel. Die Welt ist aus den Fugen, eine übergreifende Verbindlichkeit, die ihre auseinanderdriftenden Teilbereiche wenigstens symbolisch zusamenfügt, existiert nicht. Vermittlungsversuche schlagen es ins Gegenteil um. Jeronymus von Schroffenstein, der sich hektisch als Unterhändler betätigt, wird auf Geheiß des bärbeißigen, mißtrauischen, alle Selbstzweifel gewaltsam von sich weisenden Rupert von Rossitz vor dessen schief-verwinkelten Schloß erschlagen. Den von Augen und Ohren übermittelten äußeren Tatsachen wird stets ein falscher Sinn unterlegt, der wiederum ein Kind des eigenen Verfolgungswahns ist. So handeln alle, da kein verbindliches, vermittelndes Prinzip existiert, wie im Wahnsinn. Wo das Augenscheinliche falsch sein muß und die Zwecklogik, in der jeder für sich gefangen ist, den Blick verstellt, muß, wer klar sehen will, allen Insignien der Macht, ja der Welt entsagt haben, wie der alte Graf Silvius, der – Symbol, Symbol! – blind ist.

Andrea Breth hat die monströsen Schwächen des Stücks nicht zugedeckt, sondern sie als Verfremdungs-Effekte nutzbar gemacht. Am Schluß, als die angebliche Agnes-Leiche ausgerechnet vom blinden Silvius als sterblicher Überrest des Ottokar identifiziert wird und sein Begleiter angesichts eines anderen Menschenbündels ausruft: "Dort ist noch eine Leich,/ ich hoffe, die wirds sein", da ist das Gelächter unvermeidlich. Unwillkürlich wandern die Gedanken einige Kilometer ostwärts an die Volksbühne, wo Frank Castorf aus dieser Vorlage gewiß eine (Kinder-)Sex & Crime-Aufführung gemacht hätte. Für Andrea Breth war das keine Versuchung, zum Glück. Sie hat die Realität des Wahnsinns in ihren subtilen Abstufungen und Verschlingungen grandios auf die Bühne gebracht.


 
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