© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/97  27. Juni 1997

 
 
"Spiegel" - Story: Stasi, Lebensborn und ein Roman
Die Lust an den Untiefen
von Doris Neujahr

In der vorletzten Nummer des Spiegel, des Wochenmagazins "für Doktor Lieschen Müller" (die Sottise stammt nicht von Hans Magnus Enzensberger, sondern vom SED-Propagandisten Karl-Eduard von Schnitzler) war auf dem Titelblatt wieder einmal Hitler fällig. Und die so angekündigte Story bot dann wieder einmal alles, was der abenteuerliche Filzpantoffel begehrt: Spionage, Stasi-Unholde, viel "Drittes Reich", dazu Sex-Kitzel der Marke "Lebensborn".

Der Essenz der Geschichte über die Stasi-Agenten, die mit Biographien von Kindern ausgestattet wurden, die während des zweiten Weltkriegs in "Lebensborn"-Heimen von norwegischen Müttern entbunden worden waren und denen die DDR ihre biographische Spurensuche verbot, ist wahrhaft beklemmend: Sie liegt im Raub persönlicher Biographien durch den Staat, im nahtlosen Ineinandergreifen von roter und brauner Diktatur, in der totalen Entfremdung und Funktionalisierung von Individuen in Orwellscher Dimension.

Über die NS-Organsisation "Lebensborn" und ihre Nachwirkung im SED-Staat gibt es einen Roman, der 1988 im kleinen, aber damals feinen Rostocker Hinstorff-Verlag erschien: "Kontrollverlust" von Norbert Bleisch. Ein sprödes, psychologisch sehr subtiles Buch, das seltsamerweise fast vergessen ist und auch in Wolfgang Emmerichs 1996 neuaufgelegter, erweiterter "Kleinen Literaturgeschichte der DDR" unerwähnt bleibt, obwohl Bleisch, Jahrgang 1957, immerhin Ingeborg-Bachmann-Preisträger ist.

Hauptperson ist der dreißigjährige Konrad Mettusa, der ein verkrüppeltes Gefühls- und Sexualleben hat und über seine Ehe und das Verhältnis zu Frauen nur in den Kategorien von Kampf, Unterwerfung, Verweigerung, Haß und Rache denken kann. Als ursächlich dafür stellt sich der Liebesentzug durch seine Mutter heraus. Helga Mettusa – im Roman heißt sie nur DIE FRAU – war Mitarbeiterin in einem Lebensborn-Heim, hat die Selbstentfremdung und Funktionalisierung von Sexualität und Kindersegen durch den Staat verinnerlicht und bis in die Gegenwart konserviert. In ihren Träumen kommt ihr gefallener Mann Siegfried als germanischer Held vor; ihr im Säuglingsalter verstorbener Sohn Bertold als nordischer Musterknabe. Konrad entstammt ihrer zweiten Ehe, die ihr nichts bedeutet. Sie will ihn "hart" machen und sorgt dafür, daß er nach einem Diebstahl, den er ihr zuliebe begangen hat, ins Gefängnis kommt, wo er von Zellengenossen vergewaltigt wird. DIE FRAU besitzt Konrads Tagebuch und hat damit Zugriff auf sein Innerstes. Sie ist sein personifiziertes NS-Trauma. Helga Mettusas heile (braune) Welt mitten im DDR-Sozialismus wird zerstört, als eine ehemalige Kollegin ihr mitteilt, ihr Sohn sei 1941 mit einem Klumpfuß zur Welt gekommen und "abgespritzt" worden. Ihre Persönlichkeit ist schon zu sehr zerstört, als daß noch eine Katharsis möglich wäre, vielmehr wird ihr Destruktionszwang verstärkt. "Du wirst sehen, um etwas anderes aus ihm zu machen, muß er zerschlagen werden", sagt sie der Schwiegertochter, in der falschen Annahme, sie wäre ihre Verbündete. Sie gibt ihr daher Konrads Tagebuch, das aber in der Mülltonne landet, womit der Bann, ihre "Kontrolle", zu zerbrechen beginnt. Der Roman, in dem mehrfach die Reemtsma-Zigarettenschachteln der Wehrmachtssoldaten erwähnt werden, geht über Christa Wolfs vergleichbar konzpierten Roman "Kindheitsmuster" und erst Recht über Thomas Brussigs pennälerhafte Masturbationsphantasien in "Helden wie wir" hinaus.

Doch die Entsorgung einer traumatischen Vergangenheit ist schwieriger als der Gang zum Müllkasten. Aufgrund der biographischen Angaben im Klappentext, der auch eine Haftstrafe vermerkte, konnte man vermuten, daß der Autor persönliche Probleme abhandelte. Mit ihrer Bewältigung klappte es nicht so recht. Im Mai 1997 wurde Bleisch von einem Schweriner Gericht zu zwei Jahren Haft verurteilt. Er hatte Knabenpornos hergestellt, bei der Filmhandlung selbst mit Hand angelegt und die Streifen vertrieben. Die Boulevardpresse in Mecklenburg-Vorpommern berichtete. Bleisch sagte mit Blick auf die aktuelle Doppelmoral vor Gericht: "Ich bekam Fanpost von Richtern, Staatsanwälten und Pastoren."


 
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