© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/97  27. Juni 1997

 
 
US-Dokumente: Was man während des Krieges in Rom erfahren konnte
Drehscheibe Vatikan
von Alfred Schickel

Gelten die vatikanischen Archive als die bestgehüteten Dokumenten-Depots der Welt, überraschen die über den Heiligen Stuhl ausgetauschten Regierungs- und Geheimpläne der einst kriegführenden Mächte um so mehr durch ihre Fülle.

Da beide Kriegsparteien die diplomatischen Beziehungen zum Papst aufrechterhielten und der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt einen eigenen "Persönlichen Repräsentanten" bei Pius XII. akkreditieren ließ, wurde der Heilige Stuhl in der Tat zur Drehscheibe der wichtigsten Informationen zwischen den Alliierten. Das dokumentieren jüngst von der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI) bearbeitete US-Papiere.

So vertraute der polnische Botschafter Kazimierz Papée am 2. Oktober 1942 dem amerikanischen Geschäftsträger Harold Tittmann die Vorstellungen seiner Regierung über das besiegte Nachkriegsdeutschland an. Demgemäß hatten die westlichen Alliierten nach Kriegsende mit "drei Kräften" im Reich zu rechnen: mit den "Überresten der preußischen Armee, der Kommunistischen Partei und der Katholischen Kirche". Von diesen seien die preußische Armee und die kommunistische Partei möglichst unter Kontrolle zu halten bzw. zu zerschlagen, um den Frieden nicht ein weiteres Mal zu gefährden oder Mitteleuropa unter bolschewistische Herrschaft geraten zu lassen. Daher sollten "die Alliierten nicht erlauben, daß Sowjet-Rußland irgendein europäisches Land besetzt; sowjetrussische Truppen und Verwaltung sollten niemals ein besiegtes Deutschland regieren dürfen". Vielmehr müsse "die Hauptkraft der sowjetrussischen Truppen entlang der alten polnisch-litauischen Grenze bleiben", riet der polnische Missionschef dem US-Diplomaten.

Von Preußen die beiden Sprungbretter abschneiden

Die katholische Kirche in Deutschland, in der Einschätzung des polnischen Botschafters "die einzig positive Kraft" im besiegten Reich, sollte dagegen gefördert und mit Kräften ausgestattet werden, die anziehend wirken, da sie nicht nur "eine moralische, sondern auch eine politische Rolle zu spielen" hätte. Wie die Praxis der Westalliierten – besonders der Amerikaner – später erwies, haben sich die Sieger tatsächlich gegenüber der Kirche in Deutschland kooperationsbereit gezeigt und sich nicht selten bei deutschen Prälaten und Bischöfen Rat für ihre Besatzungsregierung geholt. Von US-General Patton ist bekannt, daß er in Personalentscheidungen auf die Empfehlungen Kardinal Faulhabers hörte und dabei sogar seinen Posten als Militärgouverneur von Bayern riskierte. Und General Clay, der spätere US-Militärgouverneur für die gesamte US-Zone, mußte sich so manche Kritik Weihbischof Neuhäuslers an der Siegerjustiz der Amerikaner anhören.

Beherzigten die Westalliierten die empfohlene Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche, griffen die Sowjets den zweiten Ratschlag der Polen – die Ausschaltung der preußischen Armee – auf und besorgten seine Ausführung augenscheinlich auch unter den von Botschafter Papée genannten Voraussetzungen: "Um die verbleibende Struktur und Ideologie der deutschen Armee zu schwächen, werden die Alliierten Preußen selber schwächen müssen." Dafür gebe es nach Papée nur einen Weg: "Von Preußen die beiden Sprungbretter für potentielle Angriffe auf Osteuropa abschneiden", nämlich "Ost-Preußen und Oberschlesien", das heißt diese beiden deutschen Provinzen nach dem Krieg Polen zuzugliedern. Eine Grenzverschiebung, wie sie Stalin dann 1945 mit der Errichtung der sogenannten Oder-Neiße-Linie zweihundertprozentig vollzog, indem er Polen über Ostpreußen und Oberschlesien hinaus auch noch Niederschlesien, den größten Teil von Pommern und Ost-Brandenburg zuschlug und damit mehr als neun Millionen Ostdeutschen die Heimat nahm.

Mit dieser verdoppelten Land-Zugliederung an Polen bekräftigte der Kreml-Chef zugleich die Folgerung Botschafter Papées vom 2. Oktober 1942: "Dann kann Berlin nicht mehr länger die Hauptstadt Deutschlands bleiben, da es zu nahe an der Grenze liegt". Konsequenz: "Die Hauptstadt wird dann zum Mittelpunkt Deutschlands hin verlegt werden müssen." Eine Forderung, die man in der Bundeshauptstadt Bonn bis zum heutigen Tag erfüllt sehen kann.

Wie sich die Vereinigten Staaten das Kriegsende vorstellten und das besiegte Deutschland zu behandeln gedachten, war gleichfalls Thema von Gesprächen im Vatikan. An ihnen nahm Papst Pius XII. persönlich teil, seit Präsident Roosevelt im Januar 1943 die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation der Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan in Casablanca aufgestellt hatte. Der Pontifex suchte die US-Regierung von dieser Forderung abzubringen, da er von ihr nur eine Versteifung des deutschen Abwehrwillens erwartete und mit ihr eine Verlängerung des blutigen Ringens befürchtete. Um diese päpstlichen Einwände zu zerstreuen, schickte Roosevelt seinen "Persönlichen Repräsentanten", Myron C. Taylor, wiederholt zu Pius XII. und ließ ihn die "psychologischen Hintergründe" seiner Forderung erläutern. Zu diesem Zweck suchte Taylor den Papst im Juni 1944 zweimal auf und erklärte, daß "bedingungslose Kapitulation nicht Unterwerfung und Vernichtung" Deutschlands bedeute. Vielmehr sei mit der angestrebten "totalen Niederlage" die Absicht verbunden, einer neuen Legende von der "Unbesiegbarkeit der deutschen Waffen" zuvorzukommen und der Welt zu beweisen, daß auch die deutsche Armee besiegbar sei. Bekanntlich galt 1918 weithin das deutsche Heer als "im Felde unbesiegt" und nur durch den "Dolchstoß" von hinten zum Rückzug gezwungen.

Diesmal sollte geschehen, was US-Generalstabschef Pershing schon 1918 gefordert hatte, aber vom damaligen Präsidenten Wilson abgelehnt worden war: bis nach Berlin durchmarschieren und dann erst den Kampf einstellen. "Deutschland wird in kurzen und einfachen Formulierungen alle Rechte und Vollmachten den Alliierten übertragen", erklärte Myron C. Taylor am 29. Juni 1944 dem Papst. Nach derselben Quelle aus dem Vatikan fügte er hinzu, daß die Alliierten es bei der Besiegelung der deutschen Niederlage nicht gern mit Vertretern eines "Nazi oder quasi-Nazi Government" bei der gemeinsamen Unterzeichnung zu tun haben möchten, sondern eine "militärische Unterschrift eines von der amtierenden Regierung Bevollmächtigten" vorziehen würden. Diesem Verlangen kam die deutsche Seite bekanntlich im Mai 1945 nach, als Generaloberst Jodl und Generalfeldmarschall Keitel in Reims und in Karlshorst ihre Unterschriften auf die Kapitulationsurkunden der Alliierten setzten.

So erwies sich ein weiteres Mal die Vatikanstadt als zuverlässige Nachrichtenquelle und das von der ZFI erworbene und gesichtete Aktenmaterial über den Hl. Stuhl als wahre "zeitgeschichtliche Fundgrube".


 
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