© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/97  27. Juni 1997

 
 
Vorreiter IG Chemie
von Toni Fischer

Ein starres Korsett schützte jahrzehntelang deutsche Arbeitnehmer wie auch Arbeitgeber aller Branchen vor Veränderungen: Die Tarifabschlüsse galten als fester, verbindlicher Flächentarif für die ganze Region, starr und unflexibel wie eine eiserne Ritterrüstung. Alle hierin befindlichen Betriebe wurden gleichbehandelt, unabhängig von jeweils unterschiedlicher Auftragslage und Wettbewerbssituation, Innovationskraft oder Mitarbeitermotivation. Auch alle Arbeitsfaktoren wie Personalführung, Flexibilität und Kundennähe, Mitarbeiterengagement oder strategische Weitsicht des Unternehmers wurden über einen Kamm geschoren.

In erster Linie führte dies zu einer Nivellierung des Mittelmaßes. Gleich, ob es sich um leistungsunwillige Arbeitnehmer oder unfähige Unternehmenslenker handelte – beide Seiten fanden sich in ihrem Schutzpanzer Seite an Seite derer, die auf Grund ihrer höheren Leistungsqualifikation, Kreativität oder Flexibilität stattdessen den Flächentrarif als Zwangsjacke empfinden mußten. Ausbruchs- und Öffnungsversuche wurden hierbei durch die jeweiligen Verbände sowie nicht zuletzt durch das Betriebsverfassungsrecht verhindert, das eine Aufweichung des für alle geltenden Tarifvertrages zum Beispiel durch Einzelbetriebsvereinbarungen untersagte.

Indes, im Zeitalter von globalem Wettbewerb, Rationalisierung und Massenentlassungen bei gleichzeitiger Verlagerung lohnintensiver Arbeiten in billigere Länder erwies sich der Flächentarifvertrag zunehmend als überregulierte Standortgefahr – für beide Seiten. Wenn aber flexible Arbeitsformen sowie individuelle und kreative Ausgestaltung der Arbeitsstätten notwendig sind, um die Wettbewerbsposition sowohl für Unternehmensgewinne wie auch Arbeiterlöhne zu sichern und auszubauen, ist eine durchschnittliche Konfektionsgröße als verbindliche Vorgabe für alle Unternehmen die falsche Antwort. Maßgeschneiderte Lösungen sind gefragt, zugeschnitten auf die jeweilige Unternehmenssituation – auch wenn Gewerkschaften wie Unternehmerverbände gleichermaßen um ihren Einfluß und ihre Bedeutung fürchten.

Nach jahrelangem Widerstreben sowohl der Arbeitgeber- wie auch der Arbeitnehmerlager gelang es nun, die heilige Kuh "Flächentarif" zu schlachten. Die Vorreiterrolle übernahm die Chemiebranche, die zur Arbeitsplatzsicherung entsprechende Öffnungsklauseln im Flächentarif abschloß. Wesentliches Merkmal ist hierbei die direkte und vorher vereinbarte Beteiligung der Beschäftigten an Gewinn und Risiko des Geschäftsverlaufs. Vor allem für die Risikobeteiligung der Arbeitnehmer wurden die Öffnungsvoraussetzungen klar definiert: Zur Beschäftigungssicherung oder Vermeidung von Produktionsverlagerungen, zur Verbesserung der Wettberwerbsfähigkeit, zu standortsichernden Investitionen im Inland oder zu existenzsichernden Maßnahmen ist eine befristete Senkung der vereinbarten Tariflöhne in einem Einkommenskorridor bis zu zehn Prozent möglich. Notwendig ist dazu jedoch die Zustimmung des jeweiligen Betriebsrates wie auch der Tarifvertragsparteien.

Als Ausgleich für diese Risikobeteiligung sieht die jüngst abgeschlossene Tarifeinigung bei guter wirtschaftlicher Lage auch eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Erfolg des Unternehmens vor. Dies kann durch Einmalzahlungen, höhere Jahresleistungen oder durch Vermögensbildung erfolgen.

So bleibt zu hoffen, daß dieser Schritt in Richtung Flexibilität und Arbeitsplatzsicherung von den Verantwortlichen vor allem der großen Konzerne nicht dazu mißbraucht wird, die Unternehmensgewinne ins Ausland zu verlagern und im Inland aufgrund der dadurch herbeigeführten Krisensituation eine Lohnsenkungsspirale nach unten einzuleiten.


 
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