© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/97  04. Juli 1997

 
 
Unschuld?
von Lothar Höbelt

Die Unschuldsvermutung gehört zu den Grundfesten des österreichischen Rechtsstaates. Das hat sich nach einigen juristischen Nachhilfeunterrichtsstunden sogar schon bis in manche Redaktionen herumgesprochen, die zwar gerne den Span im Auge der Krone, nicht aber den Balken im Visier der Zeitgeistmagazine bemerken.

Und auch dem einfachen Medienkonsumenten steht es gut an, sich die Unschuldsvermutung von Zeit zu Zeit ins Gedächtnis zurückzurufen.

Nicht etwa, wenn es um "den Ingenieur", den "Ministerialrat" und andere, mehr oder weniger freiwillige Stars des einschlägigen Spektakels um Briefbomben, Bekennerbriefe und Behördenwirrwarr geht. Bei denen liegt sie wohl ohnehin ziemlich klar auf der Hand. Nein - Die Unschuldsvermutung muß auch für ihre Widersacher gelten, selbst wenn es die Glaubwürdigkeit noch so strapaziert.

Die Fairness gebietet es zum Beispiel, nicht wirklich anzunehmen, daß Reporter es für ein hinreichendes Indiz für die Mitgliedschaft bei einer terroristischen Vereinigung halten, wenn jemand eine sattsam bekannte Richterin für ein törichtes, weißes Vögelchen hält. (Andernfalls wäre demnächst vielleicht gar noch der komplette Zusammenbruch der ohnedies überlasteten Justiz zu befürchten, wenn sich die Mehrzahl der Berufskollegen der betreffenden Dame unter dem Druck der veröffentlichten Meinung wechselseitig in U-Haft nehmen müßten.)

Die Unschuldsvermutung muß natürlich auch für die Polizei in all ihren kooperativen Untergliederungen gelten, und das fairerweise selbst in der Ära Einem, daß sie mitnichten in unverantwortlicher Weise Journalisten Einblick in schwebende Verfahren gewährt hat, sondern vielmehr in souveräner Manier alle Möglichkeiten genutzt hat, zur Desinformation der Sympathisanten und zur Verwirrung der Täter beizutragen, wo immer diese auch zu finden sein mögen.

Die Unschuldsvermutung im übertragenen Sinne ist schließlich auch in Anwendung zu bringen, wenn irgendjemandem taxfrei phantastische Geschichtskenntnisse attestiert werden, bloß weil der den Lernstoff der Unterstufenklassen einer Allgemeinbildenden-Höheren Schule nachzuschlagen imstande ist.

Auch hier gilt die Unschuldsvermutung, daß derlei Übertreibungen bloß respektvolle Höflichkeit vor dem politischen Andersdenkenden ausdrücken und nicht etwa Rückschlüsse auf das eigene Bildungsniveau zulassen.

Mag sein, daß die Optik in all diesen Fällen nicht besonders gut aussieht. Aber man soll eben nie nach dem äußeren Schein urteilen. Eine Weisheit, die bisweilen gerne vergessen wird.


 
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