© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/97  11. Juli 1997

 
 
Warten
Kolumne
von Klaus Motschmann

Im Jahre 1869 hat Bismarck in einem amtlichen Erlaß zu den damals drängenden Fragen um die deutsche Einheit wie folgt Stellung genommen:

"Ein willkürliches, nur nach subjektiven Gründen bestimmtes Eingreifen in die Entwicklung der Geschichte hat immer nur das Abschlagen unreifer Früchte zur Folge gehabt. … Hinter der wortreichen Unruhe, mit der die Leute außerhalb der Geschäfte nach dem Stein des Weisen suchen, der sofort die deutsche Einheit herstellen könnte, verbirgt sich in der Regel eine flache und jedenfalls impotente Unbekanntschaft mit den Realitäten und ihren Wirkungen. … Wir können die Uhr vorstellen, die Zeit geht aber deshalb nicht rascher, und die Fähigkeit zu warten, während die Verhältnisse sich entwickeln, ist eine Vorbedingung praktischer Politik". Bismarck vertraute darauf, daß bei Beachtung dieser Grundregel man der "Zukunft mit Ruhe entgegensehen und den Nachkommen das Weitere zu tun überlassen könne". – Knapp zwei Jahre später hatten sich auf Grund unvorhersehbarer Umstände die "Verhältnisse" in Europa so entwickelt, daß die Einheit Deutschlands hergestellt werden konnte.

Entstehende Ähnlichkeiten zu den Auseinandersetzungen um die europäische Einheit und die Einführung des Euro sind nicht rein zufällig! Selbstverständlich sind die völlig unterschiedlichen Rahmenbedingungen verantwortlichen politischen Handelns damals und heute zu beachten und selbstverständlich liegt mit dieser Erinnerung kein Patentrezept für die Lösung unserer heutigen politischen Probleme vor – wohl aber die immer wieder notwendige Erinnerung an eine "Vorbedingung praktischer Politik": die Fähigkeit, "warten" zu können.

Wer erinnert uns heute angesichts der drängenden Probleme und Zukunftsaufgaben an diese "Vorbedingung praktischer Politik"? In der vielzitierten Berliner "Hau-Ruck-Rede" des Bundespräsidenten fehlt dieser Hinweis. Und weil daran nicht mehr erinnert wird, werden uns dauernd "unreife Früchte" präsentiert.

Warten bedeutet entgegen einem unausrottbaren Mißverständnis nicht Lethargie und Untätigkeit. Warten ist eine geistige und politische Leistung ersten Ranges. Im Warten-Können dokumentiert sich die Einsicht, daß die Geschichte nach anderen als den sogenannten Maastricht-Kriterien verläuft und jede Fixierung allein auf diese Kriterien mit einer schrecklichen Enttäuschung enden muß, weil sie auf Täuschung über die Vorbedingungen praktischer Politik beruhen. Haben wir im 20. Jahrhundert nicht genug Enttäuschungen erlebt?


 
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