© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/97  18. Juli 1997

 
 
Pankraz, Paul Ernst und der Sturz des kapitalistischen Fetischs
von Günter Zehm

Bei jungen Konservativen, die diesen Namen verdienen, wächst zur Zeit rapide der antikapitalistische Affekt, das Mißtrauen, ja der Haß gegen das Treiben speziell des "Finanzkapitals". Manchmal weiß der Zuhörer nicht mehr, ob er sich in einem rechten oder in einem linken Zirkel befindet, so ähnlich sind die Fragestellungen, die Analysen, die Entrüstungen.

Das Finanzkapital, klingt es hier wie da, werde von den Regierungen und den politischen Klassen angebetet wie ein gräßlicher Fetisch. Man wälze sich vor ihm im Staube, opfere ihm blindlings alles, seien es nun einstmals sichere Renten oder noch vorhandene nationale Eigenarten, seien es simple menschliche Anständigkeiten oder etwas feiner als üblich ziselierte Fernsehprogramme.

Die "Lehren von 1989", die der Untergang des Kommunismus geliefert hat, verblassen allmählich. Diese Lehren liefen bekanntlich darauf hinaus, daß ein Gemeinwesen, das den Faktor Kapital ignoriert und unterdrückt, zum Scheitern, zur Verrottung und Zerbröselung verurteilt ist, Kapital muß gehegt werden.

Jeder Staat, der funktionieren und blühen will, braucht dazu einen ordentlichen Kapitalismus, ein risikofreudiges, in seinen Dispositionen möglichst freies Unternehmertum, das Chancen des Profitmachens erkennt und ausnützt und seinen Profit auch ohne Gesetzesverletzung und schlechtes Gewissen nach Hause bringen darf. Nur wer andere verdienen läßt, verdient selbst.

Doch speziell der letzte Satz wird in besagten konservativen Zirkeln neuerdings in Frage gestellt. "Die Profitmacher verdienen doch üppig wie nie", wird einem entgegengehalten, "aber der Staat, die Gemeinschaft, hat nichts davon, im Gegenteil, die Existenz und die Souveränität der Staaten, die Kultur und die Tradition der Gemeinschaften werden vom Kapital bereits mit unüberbietbarem Zynismus zur Disposition gestellt. Konzerne oder gar einzelne Finanzhaie nehmen sich ungeniert heraus, ganze Staaten über die Löffel zu balbieren und anschließend sogar noch zu verhöhnen. Das hat mit Demokratie nicht das geringste zu tun und noch weniger mit einem guten, gottgefälligen Leben. Es ist der pure Skandal."

Es leuchtet den jungen Konservativen überhaupt nicht ein, daß die neuen weltumspannenden Informations- und Transportsysteme ausschließlich dem Kapital zugute kommen sollen, indem sie es in die Lage versetzen, durch in Sekundenbruchteilen getätigte Termingeschäfte und durch Produktionsverlagerung in Niedrigstlohngebiete riesige Gewinne zu erzielen, denen nicht im entferntesten ein investiver Nutzen gegenübersteht. Auch Kapital, sagen sie, ist der Gemeinschaft und der Tradition verpflichtet, aus denen es stammt. Wenn es statt dessen diese Gemeinschaften und Traditionen zerstört, muß man ihm in den Arm fallen.
Pankraz würde dem ohne weiteres zustimmen, nur stellt er die bange Frage: Wie? Wie soll man dem zum Fetisch gewordenen Kapital in den Arm fallen, ohne die katastrophalen Fehler der Kommunisten und Sozialisten zu wiederholen, die letztlich doch nur geholfen haben, den Fetisch erst richtig aufzurichten?

Mit "geschlossenen Handelsstaaten" … la Fichte läßt sich dem Übel gewiß nicht begegnen. Zwar ist heutzutage wohl nicht mehr zu befürchten, daß ein im Stile Fichtes geschlossener Tugendstaat von den anderen mit einem neuen Opiumkrieg überzogen würde, um die Öffnung der Grenzen zu erzwingen, jedoch auch das lehrt die jüngste Historie jedes gewaltsame Sichabkapseln führt im Zeichen der neuen Medien zu unerträglichen inneren Spannungen, die auf Dauer kein Staat aushält.

Vielleicht kann er eine Zeit lang die Kapitalisten, ihre Produkte und Moden draußen halten, aber sie sind virtuell ständig präsent, und diese rein virtuelle Präsenz, die ja eine idealisierte, von Fehlern und bösen Folgen gereinigte Präsenz ist, entfaltet gerade bei noch unerfahrenen Völkern einen unbändigen Hunger nach der Realpräsenz, weshalb dann also zum Beispiel eine junge Inderin ihren schönen traditionellen Sari beiseitelegt, ihren Hintern in eine modische Jeanshose zwängt und, statt in den Tempel, nur noch in die Chipfabrik von Siemens geht.

Islamische Theokratien wie Iran, buddhistische Militärregimes wie Burma, kommunistische, sich gerade öffnende Parteidiktaturen wie China: sie haben die Begegnung mit dem zum Fetisch gewordenen, seiner Wurzeln entwachsenen Kapitalismus alle noch vor sich, für sie ist Kapitalismus zunächst einmal nichts weiter als eine Sehnsucht oder ein neues Spielzeug, eine Lebenssteigerung. Ihre Eliten hegen noch die Überzeugung, sie könnten ihn zur rechten Zeit zähmen, asiatisieren, konfutsieren, islamisieren.

Für die (West-)Europäer hingegen ist die Zähmung, besser: die Entfetischisierung des Kapitalismus keine ferne Zukunftsaufgabe, sondern eine aktuelle Notwendigkeit. Denn er bringt ihnen keine Lebenssteigerung mehr, sondern nur noch soziale und kulturelle Verarmung. Und sie müssen erkennen, daß man dieser Veramung nicht entgehen kann, indem man nach kommunistisch-sozialistischer Manier irgendwelche staatlichen Maßnahmen einleitet, irgendwelche Gesetze und Durchführungsverordnungen erläßt, sondern daß eine wirklich geistig-moralische Wende, eine Wende in den Seelen fällig ist, wie sie einst der leider vergessene Ex-Marxist und Ex-Sozialist Paul Ernst in seinen "Erdachten Gesprächen" von 1921 so wortmächtig eingefordert hat.
Daß die aktuell agierenden Politiker mit solcher Wende den Anfang machen werden, ist natürlich gänzlich unwahrscheinlich. Aber vielleicht wächst Rettung im Auge des Taifuns, setzen demnächst einige große Kapitalisten, einige große Unternehmerpersönlichkeiten ein Zeichen und rücken die Interessen der Polis, der sie selbst entstammen, sichtbar über das reine Profitinteresse. Darauf hoffen die jungen Konservativen noch am ehesten.


 
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