© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/97  18. Juli 1997

 
 
Stresemann
Kolumne
von Manfred Brunner

Vor siebzig Jahren erhielt der große Nationalliberale Gustav Stresemann den Friedensnobelpreis. Greift man heute zu jenem schmalen Büchlein "Der neue Weg Deutschlands", durch das die Osloer Rede Gustav Stresemanns bei der Entgegennahme des Preises breiten Kreisen bekannt wurde, fällt einem auf, wie viele der heute aktuellen Fragen alte Bekannte in neuen Kleidern sind.
Um die Frage "Wie soll die europäische Zusammenarbeit beschaffen sein", kreisten die verschiedensten Vorstellungen. Staatenbund oder Bundesstaat sind nicht nur heute Kernbegriffe dieser Diskussion. Hauptadressat der Stresemannschen Europapolitik war Frankreich, Rückhalt fand er in Amerika. Stresemann war überzeugt, daß die Kernfrage der deutschen Außenpolitk im Verhältnis zu Frankreich liegt. Die Friedenssicherung erschien ihm am dauerhaftesten durch eine "Verständigung zwischen deutlich gegeneinander abgegrenzten Nationalstaaten" gewährleistet. Seine Vision von einem Europa souveräner Staaten, von einer Versöhnung der Verschiedenheit statt ihrer Verdrängung, brachte ihm nicht nur den Friedensnobelpreis, sondern anhaltende nationale und internationale Anerkennung. Der Nobelpreis-Rede vom 29. Juni 1927 setzte der französische Außenminister Briand am 5. September 1927 einen Plan entgegen, der auf eine politische Vereinigung Europas hinauslief. Die gegensätzlichen Passagen Stresemann/Briand könnte man heute in die aktuelle Euro- und Europa-Debatte einbringen. Stresemanns Kernsätze und die Thesen der Maastricht-Gegner sind identisch.

Die Ironie der Geschichte wollte es, daß der größte Franzose dieses Jahrhunderts, Charles de Gaulle, mit seiner Vision eines Europa der Vaterländer sehr nahe bei den Gedanken Stresemanns war, während Helmut Kohl sich in den Spuren Briands bewegt. Der gedankliche Wettsreit zwischen Stresemann und Briand wurde vor 1927 offen und klar geführt. Siebzig Jahre später erleben wir, wie man einen Dialog der Konzeptionen von Regierungsseite durch Totschweigen und Aussitzen verhindern will. Es scheint nicht länger zu gelingen. Stresemann und seine Europa-Thesen von 1927 können uns darin bestärken, nationalliberale Denkansätze auch heute offensiv zu vertreten. Sie brauchen den politischen Wettbewerb nicht zu fürchten. šbrigens: Stresemanns Gedanken über die Aufgaben einer "deutschen Volkspartei auf nationaldemokratischer Grundlage" könnten der CDU viel geben, aber sie wird Gedanken wie seine nicht mehr begreifen können.


 
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