© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/97  08. August 1997

 
 
Wales: Im September dürfen die Waliser zum zweiten Mal über ein eigenes Parlament abstimmen
Nicht nur ein Anhängsel Englands
von Annette Schmidt

Wales – ein Land, von dem viele Menschen in Deutschland kaum mehr wissen, als daß es Orte mit für unsere Zungen so unaussprechlichen Namen besitzt wie das legendäre Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch.

58 Buchstaben gegen die Eroberer (Römer und irische Missionare, Wikinger sowie die Angelsachsen und Normannen), ein Protest ohne Vokale, wie englische Spötter meinen. Hier irren sie jedoch. Das unscheinbare Dorf hieß noch bis ins letzte Jahrhundert einfach Llanfairpwll. Dann kamen einige pfiffige Bewohner auf die Idee, es umzutaufen, und die Rechnung ging auf: Aus aller Welt strömen Touristen herbei, um das Ortsschild abzulichten.

Ansonsten fällt den meisten Mitteleuropäern zum Stichwort Wales wohl auch nicht mehr ein als der Encyclopaedia Britannica, die noch in diesem Jahrhundert dazu notierte: "For Wales, see England!" Erst 1956 erlaubte England Wales, eine eigene Hauptstadt zu besitzen, nämlich Cardiff (sicherlich die am wenigsten "walisische" Stadt im ganzen Land!) und 1959 schließlich eine offizielle walisische Flagge, den roten Drachen auf grün-weißem Feld.

Noch heute kennt jeder Engländer das berüchtigte, etwa 1780 entstandene anti-walisische Kinderlied "Taffy was a Welshman, Taffy was a thief...". Umgekehrt wird der Waliser, der im national wichtigen Rugby-Spiel gegen England ein Tor erzielt, zum Volkshelden.

Knapp drei Millionen Menschen leben heute in Wales, aber nur noch 19 Prozent von ihnen verwenden im Alltag Walisisch. Die Verteilung variiert dabei enorm: Im südöstlichen Gwent sprechen bloß 2,5 Prozent walisisch gegenüber 61,2 Prozent im nordwestlichen Gwynedd. Zwar läßt sich eine wachsende Sympathie für die uralte Sprache feststellen, ein echter Aufschwung blieb jedoch aus.

Seit den "Acts of Union" 1536/43, die Wales unter Heinrich VIII. an England anschlossen, wird das keltische Land von London aus regiert. Die anglisierte Aristokratie wanderte damals ab nach England, Wales war ohne Führungsschicht. Nur das gemeine Volk sprach noch walisisch; vom 17. Jahrhundert an war die Sprache verpönt. 1870 wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt mit dem erklärten Ziel, die walisische Sprache völlig auszulöschen. Bis Ende des 19. Jahrhunderts mußten walisische Kinder in der Schule ein Holzbrett um den Hals tragen, wenn sie beim Walisischsprechen ertappt wurden (ähnlich wie in Irland). Wurde ein anderes Kind bei der gleichen Untat erwischt, erhielt dieses das Holzbrett. Wer es am Ende des Tages trug, erhielt vom Lehrer eine Tracht Prügel.

Ernsthaft bedroht wird die Sprache nun nicht zuletzt durch den seit etwa 15 Jahren massiven Zuzug von Engländern. Da hilft es nur bedingt, daß ein Fernsehkanal, S4C, seit 1982 täglich vier bis fünf Stunden auf walisisch sendet. Keine freiwillige Einrichtung der britischen Regierung, sondern Folge der durchaus ernstgemeinten Androhung des damaligen Präsidenten der national orientierten Partei Plaid Cymru ("Partei von Wales"), Gwynfor Evans, sonst einen Hungerstreik bis zum Tode durchzuführen – Höhepunkt einer 13jährigen Kampagne, die viele Waliser ins Gefängnis brachte oder ihnen saftige Geldstrafen bescherte.

Eine walisische Nationalpartei gibt es bereits seit 1925, anfangs mit wenig Erfolgen. Die Menschen in den armen walisischen Bergbaugebieten hatten andere Sorgen als den Erhalt der walisischen Sprache und Kultur. In den 1930er Jahren gab es Arbeitslosenraten von bis zu 50 Prozent. Labour war die Partei, von der sich die Waliser in dieser Situation am ehesten Hilfe versprachen.

Die Gründung der radikalen walisischen Sprachenbewegung (Cymdeithas yr laith Gymraeg) 1962 setzte bei Plaid Cymru Kräfte frei für die Vertretung weiterer politischer Interessen. 1966 gewann sie ihren ersten Wahlsitz, angesichts des britischen Mehrheitswahlsystems ein großer und vor allem psychologisch wichtiger Erfolg. Plaid Cymru errang nun auch bei Kommunalwahlen deutliche Zugewinne. 1970 erhielt die Partei das bisher beste Ergebnis bei britischen Parlamentswahlen: 11,5 Prozent der walisischen Wählerstimmen. Heute hat sie einen Anteil von bestenfalls 10 Prozent Stammwählern, die sich auf die ausgesprochenen Plaid Cymru-Hochburgen im Nordwesten des Landes konzentrieren, wo die Partei meist in 3-4 Wahlkreisen Mehrheitspartei wird (insgesamt gibt es in Wales 40 Wahlkreise). Dort gibt es die meisten Walisischsprachigen und evangelischen Nonkonformisten - sowie eine besonders große Zahl von verhaßten britischen Zweitwohnsitzen. Und dort brennen nicht selten englische Ferienhäuser und Maklerbüros, fordern Graffiti "English Out" und werden englische Ortsnamen auf Straßenschildern übersprüht.

Der Free Church Council von Nordwales verkündete in den 1970ern: "Wales’s greatest tragedy is that she is so far from God and so near to England." Und der bekannte walisische Folk-Sänger Dafydd Iwan sagt von sich, er sei natürlich britischer Staatsbürger und Untertan der englischen Königin und werde regiert von der Londoner Regierung – doch er sei daran interessiert, diese drei Tatsachen zu ändern! Eine wachsende Zahl seiner Landsleute teilt diese Ansicht, was sich im politischen Leben jedoch nicht unbedingt auswirkt.

Dem britischen Kabinett gehört seit 1964 ein eigener Wales-Minister an der Spitze eines Wales-Ministeriums (1951) an, welches in Cardiff eine Niederlassung besitzt. In der Regel stammt der Wales-Minister aus Wales selbst. Er wird jedoch nicht von seinen Landsleuten gewählt, sondern kommt aus den Reihen der Mehrheitspartei im Londoner Unterhaus. In begrenztem Rahmen kann er sich in London für walisische Interessen einsetzen. Mindestens einmal im Jahr muß das Kabinett "matters of Welsh concern", also walisische Angelegenheiten, diskutieren. Vielleicht war die Einrichtung des Wales-Ministeriums einfach ein geschickter Schachzug Londons. Viel Kompetenzen wurden nicht abgetreten, möglicherweise jedoch weitreichendere Selbständigkeitsbestrebungen verhindert.

Die regierende Labour Party bot Wales 1979 im Rahmen ihrer geplanten Anti-Zentralisierungsgesetze ein eigenes Parlament, wenn auch ohne gesetzgeberische Kompetenzen. Die Wahlbeteiligung bei einem diesbezüglichen Referendum lag jedoch nur bei 59%. Und bloß 20,3% der Abstimmenden, 11,9% aller Wahlberechtigten, sprachen sich für ein solches Regionalparlament aus. Im Wahlkampf war deutlich geworden, daß die Waliser erneut andere Probleme für wichtiger hielten. Nicht wenige befürchteten, eine regionale Autonomie könnte ein erster Schritt zur Abspaltung des wirtschaftlich von Großbritannien abhängigen Wales sein, das alleine nicht überlebensfähig wäre.

Unter Evans’ Nachfolger Dafydd Wigley erfolgte innerhalb Plaid Cymrus seit 1980 ein programmatischer Wandel hin zu einer sozialdemokratisch orientierten Partei, die sich auch um die wachsende grüne Wählerschaft in Wales bemüht. Trotz des Linksrucks ist "self-government" (nicht jedoch eine in den Anfängen von der Partei begehrte nationale Unabhängigkeit) eine Hauptforderung von Plaid Cymru geblieben. Sie verlangt eine "Assembly", wie sie Tony Blair im Falle seines Wahlsieges versprochen hat, allerdings mit weniger Rechten als von Plaid Cymru beansprucht. Das Versprechen der Labour Party soll nun am 18. September 1997 umgesetzt werden, wenn die walisische Bevölkerung aufgerufen ist, sich in einer Volksabstimmung für oder gegen ein eigenes Parlament für Wales zu entscheiden. Diese Regionalversammlung könnte dann erstmals im Januar 1999 zusammentreten und soll 60 Parlamentarier und zehn Mitglieder einer Exekutive umfassen. – Anders als in Schottland, wo man im Hinblick auf das ebenfalls im September stattfindende gleichartige Referendum mit einem deutlichen Sieg für die Befürworter einer eigenen parlamentarischen Vertretung rechnet (diese soll 129 Mitglieder umfassen), ist der Ausgang in Wales ungewiß. Dabei soll Schottland gemäß der Londoner Gesetzesinitiative zur Regionalisierung vom 24. Juli weitgehendere legislative Befugnisse und sogar eine Finanzautonomie erhalten.

1997 errang Plaid Cymru bei der Parlamentswahl lediglich 161.030 Stimmen (4.234 mehr als 1992), was 9,95% der Stimmen in Wales und damit nach wie vor vier Parlamentssitze bedeutete. Die Wende der Partei im Sinne der eher linken politischen Tradition in Wales hat Beobachtern zufolge jedoch letztlich mehr Nachteile als Vorteile gebracht: Für die kulturnationalen Stammwähler hat sie damit an Anziehungskraft verloren. Anhänger der Grünen und von Labour wählen wohl doch lieber das Original als die Kopie. Und der Verzicht auf einen radikalen Bruch mit Großbritannien läßt Plaid Cymru nicht mehr als echte walisische politische Alternative erscheinen.

Angesichts des drohenden Profilverlusts setzt Plaid Cymru in letzter Zeit verstärkt auf eine europäische Vision. Damit konnte sie bei den Wahlen zum europäischen Parlament 1994 immerhin 17,1 Prozent der Stimmen gewinnen und nach Labour (56%) zweitstärkste Partei in Wales werden. Mit ihren Wahlplakaten verlangte Plaid Cymru damals "Independence in Europe", das sie sich als Europa der Regionen vorstellt, weniger als ein Europa der Nationalstaaten. Übergangsweise soll Wales dann von Brüssel statt von London aus regiert werden, was sicherlich eine unrealistische Idee ist.

Zur Zeit findet in Wales, wie jedes Jahr in der ersten Augustwoche, der nationale "eisteddfod" statt, zu dem Waliser aus aller Welt in ihre Heimat zurückkehren, um sich selbst zu feiern. Der eisteddfod, ein Wettstreit von Dichtern, Sängern und Musikern, wurde in seiner heutigen Form eingerichtet, um die walisische Nation und Sprache zu ehren. Hier versammeln sich in erster Linie die "Pobl y Pethe", die "Leute der Dinge", wobei mit letzteren alle walisischen "Dinge" gemeint sind. Die – persönlich aktiven – "Leute" sind zahlenmäßig weniger als die Walisischsprechenden, aber auch nicht identisch mit den politischen Nationalisten, obwohl es hier große Überschneidungen gibt. An guten Tagen kommen bis zu 50.000 Besucher zu den eisteddfods, bei denen eine ganze Woche lang mit Pavillons, Ständen und Wohnwagen eine vollständig walisische Welt geschaffen wird. Diesjähriger Austragungsort ist das am Rande des Snowdonia National Parks gelegene Bala.

Selbst innerlich gar nicht so beteiligte Besucher lassen sich meist mitreißen und in den Bann des Walisischen hineinziehen. Allen Anglisierungsbestrebungen zum Trotz sind die Waliser, von Dafydd Iwan in einer zum Kult gewordenen Hymne besungen, "immer noch hier" – "yma o hyd"!


 
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