© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/97  08. August 1997

 
 
Pankraz, Doctor Parcelsus und dei Rückkehr in den Mutterschoß
von Günter Zehm

Als Pankraz dieser Tage, in einer Vorlesung über die Philosophie des Mittelalters, die er im SS 97 angeboten hatte, zum Schluß auf die Renaissancedenker des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts zu sprechen kam, da merkte er, daß viele Studenten überaus irritiert waren. Wie denn auch anders? Soeben hatten sie von Johannes Buridanus gehört, von Nikolaus von Oresme, von den Boys des Oxforder Merton-College, exakten Physikern und Mathematikern allesamt, die faktisch schon den gesamten Galilei vorwegnahmen – und jetzt plötzlich diese wüste Korona von Zauberern und Alchimisten: Ficinus, Paracelsus, Cardanus, Agrippa von Nettesheim, Jakob Böhme... Das sollten die Wegbereiter der neuzeitlichen Naturwissenschaft sein? Da konnte man doch nur lachen.

Hoffentlich ist es einigermaßen gelungen, den skeptischen Zuhörern das exzellente Format gerade dieser Renaissancedenker nahezubringen. Denn Pankraz liebt sie ganz besonders. Sie waren gewiß keine schlechteren Naturforscher als die Mertonboys, und an Willen zur Weltveränderung, Weltverschönerung, übertrafen sie sie um Längen. Sie waren den Zahlen leidenschaftlich zugetan; wovor sie aber panische Angst hatten, das war die pure Quantität, die doch hinter den Zahlen steht, die philosophische Verwandlung der Welt in eine simple Rechenaufgabe, unter deren Formeln alle Gestalten und Farben, alle Qualitäten und sinnlichen Düfte im Nichts verschwinden.

Das war die große Tragik der Renaissancedenker: Sie wollten die Welt verändern – und wußten doch (oder ahnten zumindest), daß die Bedienung des großen Hebels zur Weltveränderung, die Quantifizierung, das genaue Rechnen, letztlich zur Verarmung der Welt führen mußte, zu ihrer Brutalisierung und Verlangweiligung. So rührten sie den Hebel lieber nicht an, erträumten statt dessen hinter den Zahlen "okkulte Qualitäten": den geheimnisvollen "Stein der Weisen", den erquickenden "Lebensborn", die "fama fraternitatis", also die "Sage der Brüderlichkeit", in die man nur durch Anverwandlung eingeweiht werden konnte.

Ihre Nachfolger, mit denen dann die sogenannte Moderne losging, die Kepler und Galilei, die Descartes und Francis Bacon, waren viel robusteren Gemüts. Sie hatten nicht die geringste Angst vor der Quantifizierung, im Gegenteil, sie bejubelten sie und machten sich ätzend lustig über die Renaissancedenker, diese "armen Philologen" (Descartes), diese "Grashüpfer, denen man endlich Bleichgewichte an die Füße binden sollte" (Bacon).

Und sie hatten Erfolg, die Modernen. Zwar gelang es ihnen nicht, zu einer "letzten", rein quantitativ bestimmbaren Weltkorpuskel vorzudringen, weil es so etwas offenbar gar nicht gibt, aber ihr Reduzieren und Rechnen und Quantifizieren zahlte sich ungeheuer aus, die Technik und ihre Möglichkeiten wuchsen ins Unermeßliche, die Menschheit nahm sprunghaft zu, wenn nicht an Qualität, so doch an Quantität, an Zahl, an Masse.

Die Masse, die Zahl, das Quantum: ihr Ansehen quoll über die Naturwissenschaft hinaus, überspülte die Politik, die Kultur, den Geschmack, die Mode. Bald konnte nur noch herrschen, wer die größte Quantität hinter sich hatte, auch wenn der momentane Wille dieser "Mehrheit" noch so miserabel und kurzsichtig war. "Meinungsforschungs-Institute" erforschten nicht die Meinung von Fachleuten oder Geschmackskönigen, sondern ausschließlich die Meinung der größten Quantität: Soundsoviel Prozent für dies und das, soundsoviel Prozent für dieses und jenes.

In der Kultur passierte das Schlimmste, was überhaupt vorstellbar war: Künstler und Poeten begannen, sich nur noch nach dem Geschmack der Massen zu richten, weil sich einzig dieser wirklich "auszahlte". Die Eliten als Stilbildner dankten ab und mit ihnen der Wille zum besonderen Valeur, zur individuellen Note, zur sublimierenden Maskierung, zu deren Entschlüsselung es etwas mehr an Geistes- und Einbildungskraft bedurft hätte, als der Masse zur Verfügung stand. Nur noch die gröbsten Reize zählten, nur noch die grellsten Veranstaltungen wurden wahrgenommen.

Heute ist das Panorama komplett. Die Diktatur der Quantität durchsäuert sämtliche Bereiche des Lebens und läßt sogar schon die bloße Erinnerung an die Existenz von Qualität verschwinden. Allenthalben ist eine Gedankenpolizei unterwegs, die auch noch das leiseste spontane Aufbegehren als Verbrechen am heiligen Geist der Masse verbellt und ahndet. Alle sollen sich selbstverwirklichen, aber wehe, es kommt etwas dabei heraus, was sich dem Willen und dem Geschmack der Massen querlegt.

Angesichts solcher Exzesse lohnt es sich schon, einmal wenigstens eine Vorlesung lang an den Ursprung der Entwicklung zurückzukehren und zu zeigen, daß am Ausgang des Mittelalters, am Tor zur sogenannten Moderne, Geistesgestalten aufschienen, die all diese Exzesse ziemlich präzise erahnt haben und sich aus den edelsten Motiven dagegen sträubten, an ihrem Heraufziehen mitzuwirken, so sehr sie an sich auf Neues scharf waren. Paracelsus etwa, der "teutsche Hermes", der mit der Welt ein Mitleid hatte und just deshalb ihre "Qualen" (alo ihre Qualitäten) nicht in der Quantität zum Verschwinden bringen, sondern sie "heilen", zum Leuchten bringen, mit der Seele verschwistern wollte.

Seine Mathematik lief nicht auf Formel, sondern auf "Farbwandel" hinaus. Aus dem Schwarz des Todes, der "nigredo", wollte er, nach pythagoreischen Anweisungen in alchymischen Prozessen, zur "citrinitas", dem Gelben, und zum "rubedo", dem Rotblitzenden, aufsteigen, und er wollte diese Prozedur nicht als Naturbeherrschung, sondern als "regressus ad uterum", als Rückkehr in den Mutterschoß, verstanden wissen. Man kann sich mit Bacon natürlich darüber lustig machen. Man kann aber auch wirklich etwas Rotblitzendes daraus herauslesen.


 
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