© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/97  08. August 1997

 
 
Deutsches Modell: Posemuckel soll Hauptstadt und Metropole werden
"West-Berlin war die Welt"
von Timo Fehrensen

Wie gern las man es in westdeutschen Reisebüros: Berlin ist eine Reise wert, oder noch anheimelnder: Berlin tut gut. Die Marketing-Agenturen hatten sich viel Offenheit für das abgeschlossene West-Berlin einfallen lassen. Und die Menschen folgten. Kaum einer zog nach Berlin, aber fast jeden zog es hin. Man guckte, mal auf der Funkausstellung, mal auf der Grünen Woche. Die Schulklassen durften die Mauer sehen, durch den Zoo marschieren und sich einen Tag lang in Ostberlin, erst am Grenzübergang und abends im musealen Berliner Ensemble, aufhalten. West-Berlin war leergefegt von Potenzen, daher vollgestopft von Subventionen. Noch vor dem Mauerbau setzte die Flucht ein, man wanderte mit Frau und Aktentasche nach Düsseldorf oder Frankfurt ab. Die Bonner Politik übte sich noch in Fürsorge. Man war dem westlichen Eiland mitten im Sowjetmoloch schließlich einiges schuldig. Sogar den Anti-Preußen Konrad Adenauer schaffte man ab und zu heran, um an der Mauer das von der Kabarettruppe "Stachelschweine" entworfene 5-Punkte-Programm zu absolvieren: anfahren – aussteigen – betroffen sein – einsteigen – abfahren.

1967, nach Brandts Weggang Richtung Bonn, begann "Westberlin pur". Eine Regierung konnte mit 20 Pfennig gestürzt werden, was heißt, ein Intrigantenanruf reichte im politischen Stammtischverkehr aus. Zeitungen von Geltung gab es kaum mehr, auch wenn sich wenigstens der Tagessspiegel noch ab und an erfolgreich um überregionales Niveau bemühte. Es präsentierte sich die Molle-Gemütlichkeit. Souverän war man nicht, West-Berliner Abgeordnete hatten im Bundestag nichts zu bestimmen. Einzig die Kultur durfte sich profilieren, hatte mitunter sogar – wie die Philharmoniker unter Karajan – weltweite Ausstrahlung. Die tonangebenden Originale aber hießen Edith Hancke oder Harry Ristock, ein sogenanntes "Urgestein" der SPD. Das waren Kumpeltypen, die durften sich fast täglich in der BZ erwähnt wissen. Die Halbstadt hatte den östlichen Teil, der sich Hauptstadt nennen durfte, vergessen.

West-Berlin war die Welt. Der normale West-Berliner hatte eher mit einem lybischen Bombenangriff als mit dem Mauerfall gerechnet und war deshalb verwunderter als der DDR-Mensch. Der Wilmerdorfer oder Charlottenburger tangierte das anfänglich jubelnde Volk nur am Rande, und nicht wenigen Kreuzbergern und Neuköllnern wurde es irgendwie unwohl. Das Außenseitertum, bestehend aus Wehrflüchtigen, Kunstbewegten und Liebhabern echten Verruchtseins, war längst keins mehr, fühlte sich wohl im "Icke"-Milieu. Und wunderte sich über die Menschen, die auf einmal über den schönen Kiez herfielen.

Es kam eine Aufgabe, der sich WestBerlins Verwaltungs-Manager kaum mehr gewachsen zeigte. Posemuckel sollte großstädtisch werden. Eine mittlerweile zu Tode verwaltete Kultur mußte, da Bonn Gelder strich, plötzlich abspecken, das einst ruhmreiche Schiller-Theater und die nicht sonderlich gemochte Freie Volksbühne mußten schließen. Eigenlich wäre West-Berlin gern noch Frontstadt geblieben. Jedenfalls sieht es häufig noch so aus: Im Bahnhof Zoo wird mehr öffentlich gekifft, uriniert und gegrölt als in fast jedem europäischen Großstadtbahnhof. In keiner anderen Stadt nehmen sich kreative Sitzaufschlitzereien und Graffitti-Exzesse so beeindruckend großflächig aus.

Die Gesellschaftskolumnen der Berliner Postillen sind zwar gefüllt, nur eine Gesellschaftsschicht gibt es nach wie vor nicht. Und daran werde auch das Adlon-Hotel scheitern, meint Berlins hiergebliebener Nobel-Philosoph Nikolaus Sombart. Der Handy-Reisende von heute braucht keine 5-Uhr-Tees mehr, die Oberschicht aus Großindustriellen, Militärs und Künstlern ist von Nazis, Kommunisten und West-Berliner Haus- und Grundstücksmaklern vertrieben worden. Die Milliarden fließen, nur die so sehr herbeigesehnten zwanziger Jahre lassen sich nicht so ohne weiteres in zeitgemäßen Look zurückbefördern.

Aber man gibt sich Mühe. Die großen Museumsabteilungen von West und Ost schließen sich gewinnbringend zusammen, es gibt wieder nennenswerte Varietes. Die Konzerte sind gut besucht, die Opernhäuser – man leistet sich immerhin drei – sind nicht selten ausverkauft. Geld ist keines da, wird aber dennoch ausgegeben. Es braucht die Renommierkultur, braucht den Lebensstil. Ersteres kann gekauft werden, der Rest ist nicht so einfach zu beschaffen. Der Berliner Gastronomie-Service freilich, meist von Langzeit-Studenten und ausrangierten Taxi-Fahrern bestritten, wird auch den Touristen aus dem finstersten Ural nicht sonderlich beeindrucken. So engagiert man Italiener und Franzosen, die der West-Berliner Kaffeeschlichtheit etwas mondänen Sinn einhauchen sollen. Die Küchenkultur war bis zum Mauerfall wieder auf dem Eisbein-Niveau, auf der er schon vor Lorenz Adlons genialen Hotel-Coup zu Beginn unseres Jahrhunderts war. Aber immerhin die Freß-Lokale machen wieder auf, auch der Auswärtige kann in Berlin wieder Essen gehen. Hertha ist wieder in der Bundesliga, und die Schö-neberger singen fast so schön wie die Wiener Sängerknaben. Die Rundfunklandschaft wird sich bald im Gegensatz zur politischen mit der Brandenburger vereinigen, und ein zugkräftiger Berlin-Potsdamer Sender wird in der ARD den zuletzt gegen Null tendierenden Einfluß des SFB wieder vermehren. Das Zeitungsgewerbe freilich wird sich schwertun. Zu übermächtig ist die publizistische Stärke von FAZ und Süddeutsche, als daß in nächster Zeit mit einer Berliner Zeitung von Weltgeltung zu rechnen sein wird.

Noch gibt es West-Berlin, und wer es nicht glaubt, soll sich das gelangweilte Personal des einstigen Monopol-Hotelriesen Kempinski ansehen. Die Theaterbrüder Wölffer wollen Geld vom Senat. Ihre Boulevard-Bühnen am Ku’damm wurden merklich weniger besucht, seitdem die Reiseunternehmen den Friedrichststadt-Palast oder das Metropol-Theater entdeckt haben und Georg Thomalla oder Nadja Tiller ihren jugendlichen Charme auch schon hinter sich haben. Und West-Berliner gibt es solange, wie sich die Verkäufer am Ku’damm über den schrecklichen Andrang beklagen. Und den gibt es nach wie vor, probieren Sie es ruhig einmal aus. Solange also sollte man sich durchaus, was allzu übertriebene Weltstadthoffnungen betrifft, mit dem schönsten Berliner Charakterzug wappnen: der Skepsis.


 
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