© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/97  08. August 1997

 
 
Vertriebene: 19. Bundestreffen der Böhmerwälder in Passau
Besinnliche Gemütlichkeit
von Ingrid Mousek

Feststimmung in der Passauer Nibelungenhalle. An die 10.000 Besucher werden in der Patenstadt der Böhmerländer erwartet. Aus Deutschland, Österreich und der Tschechischen Republik kommen sie angereist, aber auch aus Schweden, wohin 1938 – nach dem Anschluß des Sudetenlandes – zahlreiche Böhmerländer emigriert waren, sogar aus Chicago, Kanada und Australien. Fröhliche Gesichter, Wiedersehensfreude, lebhaftes Erzählen – die Szenen auf den Vertriebenentreffen ähneln sich.

Mehr als 200 Ortschaften sind nach der Vertreibung allein im Böhmerwald von der Landkarte verschwunden. Allenfalls aufgrund eines Kirschbaums, eines Flieders oder vereinzelter Mauerreste können die ehemaligen Bewohner rekonstruieren, wo ihr Elternhaus gestanden haben mag. Dennoch oder gerade deswegen: "Wir müssen auf die Menschen in unserer alten Heimat zugehen, müssen immer wieder versuchen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen _ auch wenn wir dabei manchmal sehr schnell an Grenzen stoßen", postuliert der Bundesvorsitzende der Deutschen Böhmerwaldbundes, Ingo Hans. In Anspielung auf die deutsch-tschechische Erklärung stellt er fest: "Kein politisches Papier kann Versöhnung verordnen, schon gar nicht, wenn es unter Ausschluß der Betroffenen ausgehandelt wurde und unerträgliche Geschichtsklitterungen enthält. Wir kommen nur zu einem guten Verhältnis zwischen den Völkern, wenn es von den Menschen getragen wird."

Wenige Schritte weiter verkauft Reinhold Fink "24948 Quadratzentimeter Böhmerwald zum Anmalen". Die markanten Holzhäuser von Wallern, Kanufahrer auf der Moldau, ja sogar einen Goldwäscher entdeckt der kleine Fink, Leitmotiv des 40seitigen Malheftes für Kinder, auf seinem Rundflug über den Böhmerwald. "Eltern und Großeltern können den Kindern auf diese spielerische Weise einen ersten Eindruck davon vermitteln, woher sie kommen, und vielleicht will der eine oder die andere dann auch noch mehr von früher erzählt bekommen", erklärt der Autor seine Motivation. Der beträchtliche Reinerlös kommt dem "Haus der Böhmerwäldler" in Lackenhäuser zugute.

Eine breite Palette kunsthandwerk-licher Fertigkeiten und naturheilkundlichen Wissens stellen die Frauengruppen des Deutschen Böhmerwaldbundes vor. Die Vielzahl der farbenprächtigen Stände – Trachten, Hinterglasbilder, "Scheckln" (gekratzte Eier) und Klöppelarbeiten – verbreitet eine beschauliche Gemütlichkeit.

Doch auch alte Wunden werden aufgerissen, nachdem sich die Bundesführung entschlossen hat, die Aktion der Passauer Neuen Presse "Hilfe für die tschechischen Hochwasser-Geschädigten" zu unterstützen. "Die Tschechen haben uns alles weggenommen, was wir hatten, sie haben uns vertrieben, und die Mehrheit von ihnen findet das bis heute richtig, und jetzt soll ich ihnen auch noch freiwillig was schenken?" – der ältere Herr steht nicht allein mit seiner Verärgerung.

 

Böhmerwäldler helfen Opfern der Flutkatastrophe

Doch Ingo Hans verteidigt seine Entscheidung: "Es ist selbstverständlich, daß wir Böhmerwäldler den Opfern der Flutkatastrophe helfen. Für mich ist es zweitrangig, ob das Ungarn oder Slowenen sind oder eben Tschechen, zu denen ich natürlich ein besonderes Verhältnis habe dadurch, daß wir eine gemeinsame Geschichte haben: Es geht um Menschen."

Eine der zahlreichen Spardosen mit der Aufschrift "Hochwasser-Hilfe" droht dennoch ihrerseits unterzugehen, nämlich in der Flut der angebotenen Böhmerwald-Literatur auf dem überaus reichhaltigen Büchertisch. Angesichts der Tatsache, daß man sie nie gefragt hat im Lauf ihrer Geschichte – weder 1918/19 noch 1938 noch 1945/46 noch heute –, versuchen die Böhmerwäldler dennoch zu retten, was zu retten ist. Drei Heimatzeitschriften berichten über die relativ kleine Volksgruppe, die vor der Vertreibung etwa 220.000 Menschen umfaßte. Mehr als 10.000 Böhmerwäldler sind verbandsmäßig organisiert, auch in Kinder- und Jugendgruppen. Seit 1990 finden zahlreiche Ortschaftstreffen wieder im Böhmerwald statt. Allein für die Renovierung ihrer seitdem dem Verfall preisgegebenen Kirchen und Friedhöfe wurden 8,6 Millionen DM an Spendengeldern aufgebracht.

Doch hat sich nicht trotz all dieser Aktivitäten erwiesen, daß gewaltsame Vertreibung – Fakten schafft und damit ein durchaus wirkungsvolles Mittel der Politik ist? Oder ist es so, wie Vaclav Havel formulierte, als er noch versuchte, trotz kommunistischer Diktatur "in der Wahrheit zu leben": daß es letztlich nicht darauf ankomme, ob etwas gut ausgeht, sondern ob es einen Sinn hat?


 
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