© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/97  15. August 1997

 
 
Hochwasser: Polnische Behörden müssen sich für Katastrophen-Management verantorten
"Land unter!" im Schlesischen

von Hedla Heinka

Ob wir in Glatz schon Hochwasser hätten, sei er von seinem beunruhigten Sohn telefonisch aus Deutschland gefragt worden, berichtete ein Rentner der Gazeta Wyborcza. Im deutschen Fernsehen habe man für "Südpolen" schwere Regenfälle und Hochwasser vorhergesagt, fuhr der Sohn fort. Er hätte ihn daraufhin ausgelacht und geantwortet, daß man gegebenenfalls doch gewarnt worden wäre, berichtete der Vater der Zeitung. - Einen Tag später war die niederschlesische Stadt dann überflutet, und die ersten Menschen ertranken

In Glatz ist man fassungslos. So ziemlich alles, was der Flutwelle im Weg war, ist zerstört - ganz zu schweigen vom Dreck und dem bestialischen Gestank. In einer ersten Bestandsaufnahme aus der zweiten Julihälfte rechnete die Stadtverwaltung vor, daß sich die Schäden an öffentlichen Gebäuden, Straßen und Brücken auf etwa 600 Mio. Mark beliefen. Das tatsächliche finanzielle Ausmaß könne man erst im Frühjahr "98 benennen, wenn der Wiederaufbau in Angriff genommen werde, für den eine Dauer von fünf Jahren anzusetzen sei.

Der Stadtverwaltung von Ratibor, nervös geworden durch die anhaltenden Regenfälle im Gebirge und den steigenden Oder-Pegel, gab die zentrale Wasserbehörde in Warschau auf Anfrage den Bescheid, daß es keine Anzeichen dafür gebe, daß die "Lebensader Schlesiens" in absehbarer Zeit Hochwasser führen werde. Am nächsten Tag stand auch hier das Wasser in manchen Häusern bis zum zweiten Stock.

Alljährlich kommt es im Juli zu mittleren bis starken Regenfällen, die dafür verantwortlich sind, daß die schlesischen und tschechischen Gebirgsflüsse leichtes Hochwasser führen. Und in gewisser Regelmäßigkeit, so Wissenschaftler der FU Berlin, sorgen sogenannte B-5-Wetterlagen mit mehreren mediterranen Tiefausläufern (die über dem Mittelmeer überdurchschnittlich hohe Wassermengen aufnehmen) über den Sudeten dafür, daß die sonst wasserarme Oder derart überläuft, daß es, wie bereits in den Jahren 1854 und 1930, zu Hochwasserkatastrophen kommt. Die Zeit dafür sei eben mal wieder reif gewesen, konstatieren die Experten. Ebenso sieht es der Nationale Rechnungshof Polens, der seit vier Jahren die Regierung vergeblich ermahnte, die alten deutschen Deich- und Entwässerungsanlagen an der Oder endlich zu modernisieren.

Inzwischen ist klar, daß das Hochwasser keineswegs eine völlig überraschende Naturkatastrophe war, wie dies Polens Ministerpräsident Cimoszewicz und die zuständigen Zentral- und Woiwodschaftsbehörden anfangs beteuerten. Meteorologen betonen, diese früh genug über die zu erwartenden hohen Wassermassen informiert zu haben.

Allerorten hört man den Vorwurf, daß die um finanzielle und wirtschaftliche Stabilität bemühte Regierung in ihrer Fixierung auf Fragen des NATO- und EU-Beitritts die Sicherheit der Bevölkerung leichtfertig aufs Spiel gesetzt habe. Die zweitgrößte Wochenzeitung des Landes, Wprost, karikierte Mitte Juli die Hochwasserkatastrophe in 20 der 49 Woiwodschaften mit der Überschrift: "Wir sind in der NATO!"

Der polnische Katastrophenschutz, der mit der politischen Wende von einem militärischen in einen zivilen umgewandelt wurde, kam überhaupt nicht dazu, seinem Namen gerecht zu werden. Man habe vom Innenminister und von den Woiwoden keinen Zloty für nötige Ausrüstungsgegenstände erhalten, geschweige denn dafür, Pläne für den Ernstfall auszuarbeiten, verteidigt man sich.

Besonders harsche Kritik muß sich Warschau vom Polnischen Wehrbereichskommando Schlesien gefallen lassen: Drei Tage stand die Armee einsatzbereit in den Kasernen, hatte Amphibienfahrzeuge und Hubschrauber, Schlauchboote und Zelte vorbereitet - aber niemand in der Hauptstadt konnte sich entschließen, das Militär endlich ausrücken zu lassen.

Schwer wiegt auch, daß der Präsident gar nicht daran dachte, Schlesien zum Katastrophengebiet zu erklären (hierzu Cimoszewicz am 9. Juli: "Es sind doch nur kleine Gebiete überschwemmt."). Dies hängt damit zusammen, daß sofort staatliche Hilfsgelder fällig gewesen wären. Zum anderen hegt die Führung der Postkommunisten offenbar noch immer die Hoffnung, die für September angesetzten Wahlen für sich zu entscheiden. Der Notstandsfall hätte unweigerlich einen Aufschub um drei Monate zur Folge.

Ohne Vorwarnung und ohne nennenswerte Unterstützung des Staates gerieten die Hilfsmaßnahmen zu einem beispiellosen Chaos. Der berühmte Wallfahrtsort Wartha, etwa 20 Kilometer flußabwärts von Glatz gelegen, konnte beispielsweise am 8. Juli nicht mehr von Glatz aus über die herannahende Flutwelle verständigt werden, weil der eiligst einberufene Krisenstab in Waldenburg der Stadt kurzerhand den Strom abgedreht hatte. Der Woiwode von Kattowitz rief die Bevölkerung auf, selber Sand und irgendwelche Säcke zu besorgen, weil dem Krisenstab hierfür kein Geld zur Verfügung stehe. In Neisse stritten sich Polizei, Feuerwehr und Zivilschutz stundenlang um drei Amphibienfahrzeuge, berichtete die Tygodnik Polski. Als man sich dann geeinigt hatte, daß jeder ein Fahrzeug benutzen könne, standen diese bereits mitten im Hochwasser - ohne den notwendigen Dieselkraftstoff, den man zu besorgen vergaß.

In Oppeln und Ratibor mußten die Bewohner in den bis zu vier Metern überfluteten Stadtteilen selber zusehen, wie sie durch das Wasser zu den noch geöffneten Lebensmittelgeschäften gelangten, und dort verlangten die Inhaber - das Geschäft ihres Lebens witternd - für eine Flasche Mineralwasser bis zu fünf Mark und für ein halbes Kilo Brot drei Mark. Im hochwasserfreien Teil von Oppeln wurden gleichzeitig Bestände der aus ganz Polen und aus Deutschland für die Flutopfer gespendeten Hilfspakete gegen Bares verkauft.

Cimoszewicz und sein postkommunistischer Anhang haben durch das chaotische Katastrophenmanagement und menschenverachtende Äußerungen laut Meinungsumfragen binnen zwei Wochen mehr als die Hälfte ihrer potentiellen Wähler im "roten" Niederschlesien verloren. Die Opposition und einige oberschlesische Kommunen verkündeten bereits juristische Schritte im Falle des zu erwartenden Machtwechsels. Dem Obersten Gerichtshof wird es dann obliegen aufzuklären, wie es dazu kommen konnte, daß die Behörden auf Regierungs- und Woiwodschaftsebene derart dilettantisch versagt haben. Sie werden den Verantwortlichen die Frage stellen, warum die von Meteorologen vorhergesagte Flutwelle so lange ignoriert wurde, bis unzählige Häuser und Wohnungen unter Wasser standen, über 50.000 Menschen obdachlos geworden waren und, vor allem, Dutzende die Fahrlässigkeit der Politiker mit ihrem Leben bezahlt hatten.


 
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