© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/97  15. August 1997

 
 
Konrad Löw: Der Mythos Marx und seine Macher
Ein (Halb-)Gott, der keiner war
von Horst Haun

Konrad Löw, der bereits Anfang der achtziger Jahre Bücher zum Thema Kommunismus, Marxismus und Marx vorgelegt hat, verdanken wir mit seinem jüngsten Werk "Der Mythos Marx und seine Macher" nicht nur das Protokoll einer Legendenbildung, sondern auch ein auf reiches Psychogramm einer ganzen Epoche. Es ist allerdings zu befürchten, daß die Botschaft des Buchtitels für die Auflage eher limitierenden Charakter hat, da die potentiel

len Leser, die schon länger wissen, daß, um es etwas salopp und Hermann von Berg zitierend zu sagen, Marx Murks ist, zu diesem Thema nicht greifen, weil sie dies für reine Zeitverschwendung halten, die anderen aber, die sich für Marx interessieren, weil sie sich in ihrer Glaubenssehnsucht an ihn klammern, befürchten, zu ihrem Idol Abstand gewinnen zu müssen.

Es könnte sich aber als fatal erweisen, das Thema Marx nach dem ökonomischen und ökologischen Bankrott der sozialistischen Systeme als erledigt zu betrachten. Es hat eher den Anschein, daß mit dem Verschwinden der abstoßenden sozialistischen Realität sich den marxistischen Träumereien wieder neue visionäre Räume erschließen.

Ein realpolitisches Faktum mindestens müssen wir zur Kenntnis nehmen: Mit der endgültigen Durchsetzung des Antifaschismus in Ablösung des bis 1968 herrschenden antitotalitären Grundkonsenses haben die Anhänger der zunächst untergegangenen Diktaturen sich wieder ein Podest erobert, von dem aus erstens Medienpräsenz gewährleistet und zweitens Unangreif

barkeit gesichert ist. Vergangenheitsbewältigung im Hinblick auf die blutige Geschichte des Marxismus-Leninismus findet nicht statt, und die Erfinder der Trauerarbeit zeigen keine sonderliche Neigung, nun mal in eigener Sache das vorzuführen, was sie an entspechender Meister

schaft bei anderen so schmerzlich vermissen. Der nächste Schritt könnte der "Rückgriff auf den echten Marx" sein, der im Urteil seiner Bewunderer leider von sämtlichen seiner Exekutoren fehlinterpretiert wurde. Das Buch von Konrad Löw ist somit nicht nur notwendig, sondern hochaktuell.

Der Leser muß nicht vor dem Umfang des Buches zurückschrecken, die Einzelkapitel können auch als thematisch geschlossene Einheiten für sich aufgenommen werden; freilich ergeben erst alle Kapitel in der Summe das Bild, das dem Buchtitel seine Begründung liefert. Das Buch verfügt dazu über ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis, einen dokumentarischen Anhang und bietet eine Vielzahl von Zitaten, authentischen Zeugnissen der Beweisführung.

Interessant ist, daß Konrad Löw sich nach eigenem Bekunden anfangs Karl Marx in der Absicht genähert hat, ihn von den Verzeichnungen derer, die sich auf ihn berufen, freizusprechen. Als er sich dann intensiver mit den Quellen befaßte, erlebte er wohl selbst die Ent-Täuschung, die auch viele Leser des Buches befallen dürfte, wenn sie sich mit den Briefen und der Biographie des Helden befassen. Löw zitiert Textstellen in Briefen des jungen Marx, die geeignet sind, die Legende vom liebenden Sohn zu bestätigen; er bringt aber auch den situativen Kontext, der die Wendungen vom liebevollen Mütterchen als pure Heuchelei entlarvt, wenn sie in Briefen an den Vater in Verbindung mit Bitten um weitere Finanzhilfen stehen, da dem Studiosus das Geld zwischen den Fingern zerrann. "Aber kaum ist der Vater tot, wird die "Engelsmutter" zur "Alten" über die Marx schimpft, die er regelrecht kriminell zu erpressen sucht und der er schließlich den Tod wünscht. "Mit meiner Alten ist É nichts zu machen, bis ich ihr direkt auf dem Hals sitze"".

Die Tochter Eleanor berichtet über die Ehe ihrer Eltern nur Gutes, offenbar ein Liebesnis bis zum Tode der Mutter, eine Ehe ohne Schatten. Die Realität eines traurigen und bitteren Lebens an der Seite eines Egomanen spricht dieser Schilderung Hohn. Allerdings hat Ehefrau Jenny sich wohl selbst immer bemüht "the real state of things" verborgen zu halten, zum Teil wohl aus Opportunität, viel

leicht auch aus einer Haltung, die ihr vom aristokratischen Elternhaus mitgegeben war. Nun, die Beschönigung im Familiären ist verständlich, wenn auch nicht redlich; Sie gewinnt dadurch eine ungute Bedeutung, da sie den Beginn weiterer Retuschen am Charakterbild von Marx abgibt. Die Legende von der Intimfreundschaft zu Heinrich Heine geht auch auf die Familie zurück. Danach war nicht die Politik das verbindende Element, sondern die Dichtkunst. Der Dichter verkehrte demzufolge zeitweise fast täglich bei Fa-milie Marx, häufig um seine Verse vorzu

führen, die dann im gemeinsamen Feilen ihre Vollendung fanden. Überhaupt scheint das Verhalten der beiden Emigranten von gegenseitiger Liebenswürdigkeit geprägt gewesen zu sein, führte dann auch zu Unterstützung des wegen angenommener Gelder in Bedrängnis geratenen Dichters durch Karl Marx. Liest man die Sätze der Erinnerung an Person und Vorkommnis bei Karl Marx, staunt man, zu welch drastischer Ausdrucksweise sich Liebenswürdigkeit steigern kann.

Dagegen geht die Beförderung von Marx zum Urheber der deutschen Arbeiterbewegung auf Engels zurück. Unabhängig von den widersprechenden historischen Fakten, spricht auch die Befähigung der beiden Freunde, auf Organisationen eher eine sprengende als integrierende Wirkung auszuüben, gegen diese Behauptung. Sobald die Arbeiter sich der intellektuellen Führung, so im Arbeiterverein Londons, nicht mehr willenlos unterordneten, wurden sie zu Nullen, Eseln und Pack. Die angemaßte Beschimpfungskompetenz spricht sicher für ein hohes Selbstwertgefühl der Köpfe, kaum aber für Führungsvermögen, und schon gar nicht für Respekt für die Menschen, deren Interessen man zu vertreten vorgibt. Auch hinter der Behauptung, Marx habe die Internationale begründet, und sei der Spiritus rector beim Aufstand der Pariser Kommune gewesen, steht Engels.

Das Kapitel " "Das Organ der Demokratie", die Neue Rheinische Zeitung", zeigt, welches Schindluder hier mit dem Begriff der Demokratie getrieben wurde, wie sehr man aber auch Marx als taktischen Ahnherrn von Stalins Demokratisierungsmethoden in den Ostblockländern nach 1945 begreifen kann.

Hinsichtlich der Beurteilung von Marxens wissenschaftlicher Leistung gab es wohl frühzeitig auch Skepsis, so als Eduard Bernstein bestritt, daß Marxens Sozialismus als wissenschaftlicher Sozialismus bezeichnet werden könne. Aber nach Intervention von Parteifreunden siegte die Linientreue, Interpretationen sicherten "das Bleibende im Marxismus". Löw kommentiert: "Nicht der geschichtliche Marx war gefragt, sondern eine integrierende Legende, kultfähig und kulturwürdig."

Mit wachsendem Einfluß der sozialistischen Bewegung und dann auch dem zunehmenden politischen Gewicht der Sowjetunion, wird die Verehrung gewissermaßen parteiüber

greifend. Löw nennt viele große Namen, die in diesem Zusammenhang überraschen. Gut erinnerlich ist noch die hagere Gestalt des Jesuiten Oswald von Nell-Breuning, der 1991 im Alter von 101 Jahren verstorben ist, und dessen Wort "Wir alle stehen auf den Schultern von Karl Marx" aus dem Jahr 1965 Aufsehen erregt, wohl auch Widerspruch gefunden hat, aber im Lauf der Zeit zum geschätzten Zitat derer wurde, die sich für ihre Marx-Referenz einer unverdächtigen Autorität bedienen wollten.

Nell-Breuning selbst hat wohl über die Jahre einen etappenweisen Rückzug von dieser Aussage angetreten, ohne sich letztlich klar von ihr zu distanzieren. Dabei war Nell-Breuning nicht Marxist, und nach dem berühmt berüchtigten Satz hatte er hinzugefügt, sicher mit einem Schuß Sarkasmus: "Die Summe seiner Irrtümer nennen wir heute Marxismus". Aber dieser Teil seiner Aussage drang nicht ins öffentliche Bewußtsein.

Löw stellt seinem Buch ein Zitat voraus: "Weder Männer noch Massen machen Geschichte, sondern Mythen." Es bleibt nach Lektüre dieses Buches die bittere Erkenntnis, daß die intellektuelle Welt sich mindestens in diesem Falle größte Mühe gab, diesem Wort nachhaltige Gültigkeit zu sichern.

Konrad Löw: Der Mythos Marx und seine Macher. Wie aus Geschichten Geschichte wird, Langen Müller, München 1996, 478 Seiten, 69,90 Mark


 
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