© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/97  15. August 1997

 
 
Deutschland: Das Festhalten am sozialen und politischen Besitzständen siegt über jede ökonomische Vernunft
Reformunwillig bis zum bitteren Ende

von Thomas Grönert

Der Reformanstoß von Hans-Olaf Henkel vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) gleich zu Beginn des Sommerlochs, den deutschen Staat in seiner föderalen Struktur zu verändern und die Aufforderung an den Bundespräsidenten, dies als erster hochrangiger Politiker zu artikulieren, wurde belächelt oder entrüstet zurückgewiesen. Die ihm für diesen Vorschlag zugekommene Unterstützung war in den Medien kaum zu sehen und zu hören. Der Ansatz des BDI-Präsidenten ist aber richtig. Denn die durch die Wortneuschöpfung "Reformstau" bezeichneten Umstände sind die Ursache für viele Unzulänglichkeiten in dieser Volkswirtschaft.

Nur dürfte dabei klar sein, daß Bundespräsident Herzog nicht der Mann ist, dem zuzutrauen wäre, eine solche Systemreform anzustoßen. In seiner "Berliner Rede" versuchte er zwar, den Eliten dieses Landes Mut zu Veränderungen zu machen. Doch nicht lange danach kam prompt auch schon die Antwort: Einige sich selbst wichtig nehmende Wissenschaftler warnten davor, die Ausführungen Herzogs nicht dahingehend auszulegen, den technischen Fortschritt, das Wachstum, die Ökonomie über den Menschen zu stellen und diesen dabei zu vergessen. Mit solchen Argumenten ist natürlich jedes Projekt niederzureden, selbst die letzte Marsmission der NASA wäre damit anzugreifen.

Was ist dagegen zu sagen, einige kleine und Kleinst-Bundesländer aufzulösen und mit angrenzenden zu verschmelzen? Letzthin wurde die Klage auf eine Volksabstimmung einer fränkischen "Seperatistenbewegung" vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen. Andererseits lehnten die Bürger Berlins und Brandenburgs vor einem Jahr mit eindeutiger Mehrheit eine Fusion beider Länder ab.

Die Situation erscheint paradox: Auf der einen Seite wird keine Volksabstimmung zugelassen – das Sträuben des Bonner Establishments gegen jede diesbezügliche Reform ist ja noch im Blickfeld des "Euro" allgegenwärtig –, da stimmen die Bürger in einem Referendum gegen eine an und für sich ökonomisch sinnvolle Fusion. Jetzt wird wieder das Humanitäre sichtbar. Die Menschen obsiegten demnach über ökonomische, fiskalische Gesichtspunkte.

Henning Voscherau erwartet nicht vor dem Jahr 2001 eine große Steuerreform, die diesen Namen auch verdient. Dies ist natürlich verständlich, denn nämlich erst dann ist nach seiner Meinung die richtige Partei an der Macht, die eine solche auch durchzusetzen imstande wäre, womöglich mit komfortablen Mehrheiten sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat.

Die deutsche Volkswirtschaft benötigt, wie BDI-Präsident Henkel analysiert, einen neuen Investitionsschub. Die SPD möchte dafür auch staatliche Investitionen vermehrt einsetzen, die Regierungsparteien setzen auf Incentive-Politik, auf private Investitionen und einen Rückbau staatlichen Einflusses. Den Offenbarungseid der Wirtschaftspolitik der Regierung erwidert die Opposition aber nicht etwa mit der Aufgabe ihrer Blockadepolitik zum Wohl des Landes, sondern mit wahltaktischem Geplänkel.

In dieser Situation wußte sich Hans-Olaf Henkel nicht mehr anders zu helfen, als Systemveränderungen zu fordern.


 
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