© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/97  21. August 1997

 
 
Mentalitätsgeschichte: Gründe für das krisenhafte Verhältnis von Serben, Kroaten und Bosniaken
Balkanisches Völker-Psychogramm

von Hrvoje Lorkovic

Es ist keineswegs so, daß Byzanz und die Orthodoxie nur für die Geschichte Serbiens eine wesentliche Rolle gespielt haben. Unter den mittelalterlichen kroatischen Königen wurden viele von byzantinischen Kaisern auf den Thron gehoben, während der erste serbische König, Stefan Nemanja, getaufter Katholik war. Erst dessen Sohn Sava gründete Ende des 12. Jahrhunderts aus Bewunderung für die orthodoxe Prachtentfaltung, wie er sie in Byzanz erlebt hatte, die serbische orthodoxe Kirche.

Kroatien war mitnichten immer absolut westorientiert. Zwar wurden über Jahrhunderte die Getreuen Roms unter den Kroaten gegen die Türken als "antemurale Christiantitas" benutzt, doch gab es auch jenen historischen Moment, als die Besten unter den kroatischen Adligen – die Zrinskis und Frankopans – ihrer Rolle als Vorhut der "westlichen Kultur" überdrüssig waren und zuerst mit den türkenfreundlichen französischen Königen, dann mit den Türken direkt liebäugelten. Das ging solange, bis sie im Jahre 1671 von Kaiser Leopold I. nach Wiener-Neustadt gerufen und dort kurzerhand geköpft wurden.

Die Trennung von der Donaumo-narchie 1918 erfolgte nicht durch serbischen Druck, sondern sie war eine Konsequenz aus Entwicklungen, die bereits im 17. Jahrhundert ihren Anfang genommen hatten. Die östliche Gravitation war nach den Napoleonischen Kriegen noch einmal verstärkt worden, und schon Mitte des 19. Jahrhunderts verkündete der ökumenisch angehauchte Bischof Stroßmaier die jugoslawische Idee. Sein Einfluß auf die Intellektuellen und besonders auf junge Kleriker in Kroatien war groß. Stroßmaier war eine durchaus moderne Figur, insofern seine Vorstellungen eines südslawischen Volkes den Visionen heutiger Architekten eines neuen EU-Europas ähneln. Lange zeigte sich der Bischof zweifelsfrei davon überzeugt, daß ein Volk, welches in sich das kulturelle Streben der Kroaten mit dem serbischen Freiheitssinn vereinigte, eine große Zukunft vor sich hätte. Erst als Greis erkannte er die radikale serbische Abneigung allem Kroatischen gegenüber, was nicht zuletzt die jugoslawische Idee einschloß.

 

Während des Ersten Weltkrieges war es der serbische Ministerpräsident Pasic, der sich hartnäckig einer Vereinigung widersetzte und an der großserbischen Idee festhielt. Er gab erst nach, als klar war, daß sich der mächtige US-Präsident Wilson hinter den Plan einer solchen Kulturfusion gestellt hatte.

In Fachkreisen wird oft die Frage nach dem serbischen "Unbehagen an der Kultur" gestellt. Hier sind mehrere Quellen zu nennen: zunächst der Verlust der Bindung an das einstige Kulturzentrum Byzanz als Folge der türkischen Eroberung. Durch die Auswanderung von Künstlern und Gelehrten, die dem Fall von Byzanz folgte, wurde zwar die Renaissance in Italien entscheidend gefördert, doch diese wirkte sich dann viel stärker auf Kroatien als auf Serbien aus.

Allgemein kann man sagen, daß Serbien durch die Trennung vom Mediterranen von wichtigen kulturellen Anregungen ausgeklammert worden ist. Die Eroberung durch die Türken verstärkte diese Trennung noch: Die serbische Aristokratie wurde im Laufe der Türkenkriege ausgerottet und als potentieller Kulturvermittler ausgeschaltet.

Eine Folge davon war die erzwungene "Identifizierung mit dem Aggressor", wie es in der tiefenpsychologischen Terminologie heißt. Der Islam ist ein sehr männlicher, kriegerischer Glaube. Das schöne Geschlecht und damit die Hauskultur bleiben im Hintergrund. Beides ist für die weitere Entwicklung der serbischen Mentalität von entscheidender Bedeutung gewesen.

Um die Jahrhundertwende wandelte sich der "Kulturschlaf" Serbiens zu einem Kulturneid. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hieß es unter Serben, die Kroaten seien ein Volk im Schwinden, untertänige Knechte, die an den Rändern der effeminierten westlichen Kultur knabberten. Gerettet werden könnten sie nur mit Hilfe der Serben. Durch jeden Vers, durch jeden Ton eines serbischen Liedes, so behauptete ein gewisser Stojanovic, würde ihnen ein Tropfen des "gesunden serbischen Blutes" einverleibt. – Gänzlich daneben lag Stojanovic gar nicht, wenn man sich an bestimmte balkanisierte Verhaltensweisen der Kroaten in den letzten 70 Jahren erinnert, vor allem an diverse kriegerische Exzesse.

In Bosnien wurde der Einfluß des Islam unter völlig anderen Bedingungen ausgeübt als in Serbien. Serbien wurde erobert, Bosnien dagegen fiel den Türken ohne Widerstand in die Hände, zum Teil begrüßte man sie sogar als Befreier. – Wie ist das zu erklären? Die Antwort ist, daß Bosnien weit mehr die sehr heterogenen Zustände Kroatiens widerspiegelt als die des im Abwehrkampf zusammengeschweißten Serbien. Das Land war im frühen Mittelalter eine Art Schweiz des Balkans: Wer immer mit der Katholisierung, vor allem jener Dalmatiens, unzufrieden war
(z. B. wegen der Kirchensteuer), der flüchtete nach Bosnien. Kein Wunder, daß dieses Land zum Nährboden verschiedener Häresien wurde. Die benachbarten Mächte, vor allem die ungarischen Könige, wollten die religiösen Abweichler jedoch nicht dulden, und so folgte ein Kreuzzug gegen die "Bogumilen" nach dem anderen.

Ein Großteil des Adels in Bosnien trat zum Islam über. Die heutigen Muslime in Bosnien sind ihrer Herkunft nach keine Türken, sondern in erster Linie Nachkommen der bosnischen Kroaten. Orthodox waren ursprünglich nur die Reste der illyrischen Urbevölkerung, später auch Flüchtlinge aus Serbien. Doch nicht alle Kroaten sind islamisiert worden: In Zentralbosnien und in der Herzegowina verblieben bedeutende katholische Enklaven.

Für die neuen Muslime zeigte sich schon sehr bald, daß ihre Konversion zum Islam keine dauerhafte Sicherheit mit sich brachte. Bereits Ende des 17. Jahrhunderts mußten sie Slawonien verlassen und wanderten südostwärts. Bei jedem weiteren türkischen Rückzug wiederholte sich dasselbe: Hunderttausende von Muslimen verließen Bosnien und begaben sich in die Türkei. Die Zurückgebliebenen paßten sich an. Dieser Umstand, kombiniert mit dem islamischen Fatalismus, erzeugte eine passive Mentalität und eine Unfähigkeit zu klaren Entscheidungen. – Es war diese opportunistische Passivität, die die Muslime unter den standfesten Katholiken und widerstandsfreudigen Orthodoxen unbeliebt machte und sie zur Zielscheibe vieler Witze werden ließ.

Die muslimischen Bosniaken paßten sich der 1878 beginnenden österreichischen Verwaltung gut an. Ungleich schlechter erging es ihnen im königlichen Jugoslawien, wo sie den ersten Wellen der serbischen Rache ausgesetzt waren. Schwer gelitten hat auch die muslimische Bevölkerung rund um Gorazde, als sie im Zweiten Weltkrieg von den serbischen Tschetniks terrorisiert wurde. Die kommunistische Ära brachte schließlich eine Periode der Erholung; es gab Anzeichen für das Entstehen einer neuen Identität.

Umso schwerer fühlten sich die Muslime vom Ausbruch der neuerlichen serbischen Aggression getroffen. Sie waren darauf total unvorbereitet, aber sie wollten auch gar nicht "vorbereitet" sein. Immer wieder versuchten sie, eine Verständigung mit dem Aggressor zu erlangen. Lange Zeit blieben die Bemühungen der Kroaten erfolglos, den Widerstandswillen der Bosniaken zu stärken.

 

Insbesondere in der herzegowinischen Hauptstadt Mostar war diese muslimische "Neutralität" höchst unerwünscht, und das wurde den Bosniaken von den Kroaten auch in aller Deutlichkeit gezeigt.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Sobald die ersten, von den iranischen Mudjaheddin organisierten muslimischen Einheiten einsatzbereit waren, wandten sie sich gegen die Kroaten. Deren Verluste aus dem unerwarteten Angriff überstiegen sogar die des Kampfes gegen die Tschetniks.

All diese Erfahrungen und Mentalitätsunterschiede tragen viel dazu bei, daß das Verhältnis zwischen muslimischen Bosniaken und Kroaten in einigen Teilen des Staates Bosnien-Herzegowina noch immer tief gestört ist.


 
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