© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/97  29. August 1997

 
 
Oberschlesien: Eine schulpolitische Bestandsaufnahme aus der Sicht der deutschenn Volksgruppe
Gesetzestheorie und Wirklichkeit

von Peter Oppzondek

Bei der Beurteilung der Lage der deutschen Volksgruppe in der Republik Polen kommt es für die AGMO e. V. – Gesellschaft zur Unterstützung der Deutschen in Schlesien, Ostbrandenburg, Pommern Ost- und Westpreußen vor allem darauf an, die Meinung der betroffenen Landsleute in den Heimatgebieten darzulegen. Erst mit Hilfe solcher Informationen läßt sich kritisch beurteilen, ob die in den öffentlichen Medien geschilderten Reiseeindrücke bundesdeutscher Politiker und Mitarbeiter zuständiger Ministerien, beispielsweise was den Stand der Einführung deutschsprachiger Grundschulen oder zweisprachiger Grundschulklassen betrifft, richtig sind oder auch nicht.

Aus dem Informationsblatt des Verbandes der Deutschen Sozial-Kulturellen-Gesellschaften in der Republik Polen (VdG) vom März 1997 läßt sich eine aufschlußreiche Analyse des Geschäftsführers Joachim Niemann zur Lage des Schulwesens im Bezirk Oppeln entnehmen: Die Grundlage des Schulwesens der Minderheiten in der Republik Polen ist demnach das Gesetz über das System des Schulwesens vom 7. September 1991. Der Artikel 13 besagt dort, daß jede Schule und jede öffentliche Einrichtung den Schülern die Aufrechterhaltung der nationalen, ethnischen und sprachlichen Identität und Glaubensfreiheit zubilligt; vor allen Dingen jedoch ermöglicht sie den Schülern das Erlernen ihrer jeweiligen Sprache, Geschichte und Kultur. Gemäß einer Durchführungsvorschrift des Bildungsministers zu dem besagten Gesetesartikel 13 kann Deutsch als Muttersprache eingeführt werden:

– in den Kindergärten und Schulen mit muttersprachlichem Unterricht,

– in den bilingualen Schulen und Kindergärten,

– in den Schulen mit muttersprachlichem Zusatzunterricht,

– in schulübergreifenden Lehrgruppen.

Die Veröffentlichung dieser Verordnung gab die Möglichkeit, ab dem 1. September 1992 Deutsch als Muttersprache in der Form eines zusätzlichen Unterrichts in 14 Grundschulen im Oppelner Schlesien einzuführen. Im folgenden Schuljahr ist dann der muttersprachliche Zusatzunterricht in weiteren 24 Schulen der Woiwodschaft etabliert worden. Im Schuljahr 1994/95 gab es einen derartigen Unterricht an insgesamt 81 Grundschulen und 1995/96 schließlich an 132 Grundschulen der Region.

Deutsch als Muttersprache in irgendeiner Form erfordert einen schriftlichen Antrag der Eltern. Der zusätzliche Deutschunterricht als Muttersprache bedeutet das Unterrichten der deutschen Sprache in Form von drei Stunden wöchentlich. Einer Verordnung vom 24. März 1992 zufolge haben die "führenden Organe" jedoch die Möglichkeit, die Anzahl der Stunden des muttersprachlichen Unterrichts zu erhöhen. Doch in dem seither vergangenen halben Jahrzehnt nahmen sie dieses Recht nicht in Anspruch. Als Folge dessen wird in 132 Grundschulen in den Klassen 1 bis 8 Deutsch als Muttersprache nach wie vor lediglich drei Stunden in der Woche unterrichtet.

Die angesichts einer Gesamtzahl von 614 Grundschulen in der Woiwodschaft Oppeln beeindruckende Zahl von 132 Grundschulen mit Deutsch als Muttersprache ist also dennoch unbefriedigend für die Deutschen im Oppelner Schlesien, zumal auch der didaktische Prozeß von den theoretisch geltenden Vorschriften abweicht: Der neunte Abschnitt der zitierten Verordnung aus dem Jahre 1992 besagt nämlich, daß das Lehren der Sprache, Geschichte und Erdkunde der jeweiligen Volksgruppe an den Schulen mit muttersprachlichem Unterricht auf den Lehrprogrammen des Bildungsministeriums basiert, die jedoch bis heute nicht existieren! Besonders schwierig für die Lehrkräfte ist das Fehlen der Lehrprogramme für Deutsch als Muttersprache.

Das Bildungsministerium legte nicht einmal die Mindestanforderungen der Lehrprogramme für den muttersprachlichen Unterricht fest. Und in keiner der Grund- und Oberschulen wurde die Vorschrift des § 10 eingeführt, die den Lehrrat verpflichtet, das Programm für Geschichte oder Erdkunde um Elemente aus der deutschen Geschichte und Landeskunde zu erweitern.

Bis jetzt gibt es nur eine einzige bilinguale Minderheitengrundschule in der Woiwodschaft Oppeln. Leider existiert keine einzige Schule mit Deutsch als Hauptunterrichtssprache. Dank des Einsatzes der örtlichen Deutschen ist es im Bezirk Oppeln wenigstens gelungen, vier bilinguale Klassen in Oberschulen zu gründen – zwei davon in Oppeln, eine in Cosel und eine in Groß Döbern –, in denen jedoch nicht im Sinne der Verordnung vom 24. März 1992 unterrichtet wird.

Des weiteren fehlen sowohl Lehrbücher für Deutsch als Muttersprache als auch Lehrprogramme für die bilingualen Grundschulen und Gymnasien. Auch das Rahmenprogramm für die bilinguale Grundschule ist inakzeptabel, da die Kinder in den Klassen 1 bis 3 weniger Deutschunterricht bekommen würden als die Schüler in den gewöhnlichen Schulen mit Deutsch als Zusatzunterricht.

Der Verband der Deutschen Gesellschaften in der Republik Polen hat sich mit der Bitte an das Bildungsministerium gewandt, endlich ein Lehrprogramm für eine bilinguale Minderheitenschule zur Verfügung zu stellen. Trotz einer wiederholten Anfrage hat das Bildungsministerium dazu jedoch bis heute keine Stellung genommen.

Auch der Artikel 13, Abschnitt 4 des Bildungsgesetzes, der sich auf die Aufrechterhaltung der regionalen, in diesem Fall schlesischen Tradition und Kultur bezieht, wird nicht realisiert – bis heute mangelt es an einem Lehrbuch zur Landeskunde.

So ist eine praktische Umsetzung der bestehenden Durchführungsvorschrift zum Schulgesetz von 1991 bislang nicht möglich. Diese Feststellung, getroffen acht Jahre nach der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung und sechs Jahre nach dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag ist ein realistischer Maßstab für die tatsächliche Einstufung des gegenwärtigen deutsch-polnischen Verhältnisses.

 

Peter Oprzondek wurde 1943 im oberschlesischen Hindenburg geboren. Er ist Vorsitzender der AGMO e. V. (Berliner Platz 31, D-53111 Bonn, Tel.: 0228/636859, Fax: 690420), die eng mit den Deutschen Freundschaftskreisen in der Republik Polen zusammenarbeitet.


 
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