© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/97  29. August 1997

 
 
Vertreibung: Infamer Zahlenschacher um sudetendeutsche Opfer
Schweyk läßt grüßen

von Karl H. Schwind

Früher pflegte man Personen mit Adelstitel zu benutzen, die das Volk in ehrfürchtige Gläubigkeit versetzten, wenn man wichtige politische Postulate an den Mann bringen wollte. Heute wird gerne auf Leute mit akademischen Graden zurückgegriffen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Menschheit ist darauf dressiert, die Wissenschaft als Hochburg der Objektivität anzusehen, wobei sie sich keine Vorstellung über den Mißbrauch macht, den Einzelne hinter den Kulissen mit ihr treiben.

Damit Manipulationen auch zur offiziellen Geschichtsbetrachtung werden und als objektive Aufarbeitung der Historie verkauft werden können, bedarf es Organisationen mit unverdächtigem Aussehen und willfähriger Mitarbeiter, die skrupellos genug sind, die jeweiligen Frisierungen eines Geschichtskapitels pseudowissenschaftlich zu untermauern und abzusichern.

Ein solcher Fall scheint der nordböhmische Historiker Ferdinand Seibt zu sein. Er war 1957 zum Leiter des sudetendeutschen "Collegium Carolinum" bestellt worden, das eine Gemeinschaftsgründung der Sudetendeutschen Landsmannschaft und der Bayerischen Staatsregierung ist. Diese in München ansässige kulturelle Einrichtung soll nach der Satzung die große Tradition der ehrwürdigen Prager deutschen Karls-Universität fortsetzen und sich auf wissenschaftlicher Grundlage mit den böhmischen Ländern befassen.

Ferdinand Seibt lehrt Geschichte an der Universität Bochum und ist von Bonn benanntes Mitglied der deutsch-tschechischen Historikerkommission. Als Sohn eines Vaters mit deutschem Namen und einer tschechischen Mutter, die zentralen Einfluß auf ihn gehabt haben soll, hatte er sich schon früh dem originär tschechischen Nationalsozialismus verschrieben und darin auch bald Karriere gemacht. Von einem Berufskollegen, der ihn einst erlebt hatte, wurde er 1995 als "echter Nazi" charakterisiert, der später seine Seele für die Kirche und seinen Sinn für die Völkerversöhnung entdeckt haben will. Eine solche politische Vergangenheit läßt persönliche Schuldgefühle nicht ausschließen, was leicht in irrationale Rechtfertigungshandlungen ausarten kann. So wird ihm beispielsweise nachgesagt, daß er in der erwähnten Historikerkommission beflissen die sudetendeutschen Opferzahlen reduziert und die tschechischen dafür hochrechnet.

Zufolge einer Untersuchung des Statistischen Bundesamtes im Auftrag des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 1978 haben auf dem Gebiet der damaligen Tschechoslowakei 273.000 Deutsche ihr Leben verloren. Das Bundesministerium für Vertriebene gab 1967 diesbezüglich die Zahl der Vertreibungstoten mit 267.000 an, und 1965 hatte die Zentralstelle des kirchlichen Suchdienstes nach akribischer Ermittlungsarbeit sogar 295.000 getötete Sudetendeutsche genannt.

Der gut informierte ehemalige US-Gesandte in Prag, Laurence Steinhardt – selbst alles andere als ein Freund der Deutschen –, hatte unmittelbar nach diesem Massaker dessen sudetendeutsche Opfer öffentlich auf 240.000 Tote geschätzt und die Zahl der vor Kriegsende umgekommenen Tschechen mit 37.000 beziffert. Dies hindert die heutige Schwejk-Kommission nicht daran, dieses Quantum überwiegend zur Zeit des Krieges umgekommener Tschechen willkürlich auf 120.000 aufzublasen und zur Kompensation mit den im Frieden umgebrachten Sudetendeutschen heranzuziehen.

Die Bemühungen der Täter, sich von dieser Hypothek im Angesicht künftiger Mitgliedschaft in Europäischer Union und Nato zu entlasten, treibt sie in die verschlagensten Schutzpositionen. Außer aller Acht gelassen wird dabei auch die Tatsache, daß es nach der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 8./10. Mai 1945 nicht mehr möglich war, dieses Verbrechen mit Kriegshandlungen oder Reaktionen auf reichsdeutsche Entgleisungen zu entschuldigen. Ab diesem Zeitpunkt war die sudetendeutsche Bevölkerung in der damaligen CSR schutzlos dem fundamental nazistischen Geist der neuen Machthaber ausgesetzt, die zu einem nicht geringen Teil aus dem alten tschechischen Nationalsozialismus stammten, der dort bereits 1898 aus der Taufe gehoben worden war.

Nicht nachvollziehbar ist heute, wie die Bayerische Staatsregierung und die Sudetendeutsche Landsmannschaft diese buntschillernde Erscheinung vor nunmehr vierzig Jahren zum Leiter des "Collegium Carolinum" berufen konnte. Als in den siebziger Jahren – in denen Ferdinand Seibt seine politische Einstellung offenbarte – der Weggefährte Lodgman von Auens und Wenzel Jakschs, Professor Alfred Domes, den langjährigen CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß auf ihn ansprach, bekam er zur Antwort: "Ein Chamäleon, das als solches erkannt ist, birgt keine Gefahr mehr für Überraschungen!"

Hierin hat sich Strauß geirrt: Ferdinand Seibt ist inzwischen von Prag für seine Verdienste mit der Ehrendoktorwürde und der Masaryk-Medaille ausgezeichnet worden. Als Äquivalent verschickte das Münchner "Collegium Carolinum" prompt am 17. Dezember 1996 eine Presseerklärung an deutsche Politiker und Medien, in der – pseudowissenschaftlich und philosophisch verbrämt – eine Reduzierung der sudetendeutschen Opferzahl um rund 80 Prozent auf insgesamt "nur" noch 30.000 Vertreibungstote empfohlen wird. Auf eine schriftliche Anfrage wurde vor wenigen Wochen vom Bonner Außenministerium geantwortet, das Amt habe zu keinem Zeitpunkt zur Frage der sudetendeutschen Opfer Stellung genommen, da es sich bei Bedarf auf Forschungsergebnisse wissenschaftlicher Institutionen stütze.

Gleichwohl ist damit die Befürchtung nicht ausgeräumt, daß Bonn von Prag ein zweites Mal in die Knie gezwungen werden könnte, zumal ja auch das "Collegium Carolinum" darauf verweisen kann, eine wissenschaftliche Institution zu sein. Der Gedanke, daß hier eine Seilschaft getarnter Ehemaliger am Werk sein könnte, die ein Pilotprojekt zur generellen Minimierung der Opferzahlen ihrer menschenverachtenden Ideologie im Auge hat, ist am Rhein wohl noch niemandem gekommen.

Um Professor Seibt loszuwerden, bedarf es der Zustimmung der Bayerischen Staatsregierung, der aber offenbar mehr an einem guten Draht zum Prager Hradschin gelegen ist, über den der Amtsinhaber verfügt, wer wollte das auch bezweifeln. Obwohl niemand die Toten wieder ins Leben zurückzuholen vermag, kann man sie doch wenigstens vor der Verunglimpfung durch den Zensorstift schützen.


 
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